Pro und Contra
Quarantäne nur für Risikogruppen?

Boris Palmer:
Ja, das ist ethisch geboten!
Was ist unser Ziel? Wollen wir jede Infektion mit dem Coronavirus verhindern – koste es, was es wolle? Oder genügt es uns, das Risiko von Infektionen mit schwerem oder gar tödlichem Verlauf zu minimieren?
Für die weitgehende Ausrottung des Virus gibt es nur eine Strategie: Lockdown bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffs. Ein solcher Lockdown hätte verheerende Folgen, nicht nur ökonomisch, sondern auch den Verlust an Leben, vor allem in den ärmeren Ländern der Welt. Ein dauerhafter Lockdown opfert sehr viel mehr Menschen, als er rettet.
Fokussieren wir uns jedoch darauf, die Risikogruppen zu schützen, also insbesondere Menschen über 65 Jahren und jüngere mit gravierenden Vorerkrankungen, können wir für den Großteil der arbeitenden Bevölkerung die Wiederaufnahme ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit ermöglichen, wenn wir die Hygieneregeln beachten und Infektionsketten intensiv und schnell verfolgen. Gelingt es uns, das Überspringen des Virus auf die Risikogruppen zu verhindern, wird unser Gesundheitssystem nicht überlastet. Die Wahrscheinlichkeit, ein Intensivbett aufgrund einer Corona-Infektion zu benötigen, ist für Über-Siebzigjährige rund zwanzig Mal größer als für Menschen unter vierzig.
Ja, das bedeutet eine Ungleichbehandlung. Aber wir sind nur vor dem Gesetz gleich, nicht vor dem Virus. Wer ein hohes Risiko trägt, kann und muss sich eigenverantwortlich besonders schützen. Und das ist einfach: Kontakt mit anderen Menschen so weit wie eben möglich reduzieren. Die Gemeinschaft kann besondere Hilfe leisten: durch Tests, hochwertige Masken und Unterstützungsdienste. Wenn wir alle gleich handeln und behandeln, sterben sehr viel mehr Menschen an Corona und den Gegenmaßnahmen. Daher ist ein risikodifferenzierter Ansatz auch ethisch geboten.
Raul Krauthausen:
Nein, Auslese war schon mal!
Der Gedanke mag verführerisch sein. Wer selbst robuster Natur ist, mehr jung als alt, keine Behinderung hat und mit einem geringen Risiko ausgestattet ist, bei einer Corona-Infektion Leib und Leben zu verlieren, der mag denken: Warum die ganze Gesellschaft in die Geiselhaft einer Einschränkung schicken?
Ich finde diesen Gedanken nur vermeintlich verführerisch. Zum einen wissen jene Leute, die zu sogenannten Risikogruppen gehören, um die Gefahren für sich sehr gut. Wir schützen uns, so gut es geht. Etwas Besseres als den Tod findest du überall. Und wir wissen auch um die Strapazen für Seele und Nerven durch das ewige Daheim.
Die Beschränkungen in Deutschland sollten für alle noch länger gelten, um die Ausbreitung des Coronavirus weiter einzudämmen.
Wer also »Risikogruppen« – das sind viele Menschen – »schützen« will, betreibt, um es ehrlich zu benennen, eine Auslese, ein Aussondern, eine Segregation, ein Wegsperren. Du könntest an Corona sterben? Selbst schuld! Unter der solidarischen Krankenversicherung habe ich mir etwas anderes vorgestellt.
Wir Menschen mit Behinderung kennen das. Aussonderung gibt es für uns in der Bildung – auch wenn die Sonderschulen jetzt Förderschulen heißen. Aussonderung gibt es für uns auf dem Arbeitsmarkt, weil viele automatisch in Werkstätten für Menschen mit Behinderung landen. Und aus Erzählung kennen wir die Auslese, die vor 75 Jahren in Deutschland betrieben wurde.
Mein Gegenvorschlag lautet: Wenn alle an der Eindämmung des Virus arbeiten, können bald auch alle auf die Straße, kann jeder Betrieb und jede Einrichtung öffnen. Dies wäre sinnvoller als ein Abladen der Verantwortung bei »Risikogruppen«.
Quarantäne nur für Risikogruppen?
Raul Krauthausen, geboren 1980, ist Inklusions-Aktivist, studierter Kommunikationswirt und Gründer des Projekts »Soziale Helden«. Er ist auf einen Rollstuhl angewiesen.
Quarantäne nur für Risikogruppen?
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Was die gesellschaftliche Situation angeht, wäre ich durchaus bereit, meine Kontakte und Aktivitäten einzuschränken (ich bin 61 Jahre alt), um weniger restriktive Maßnahmen zu ermöglichen, denn um den wirtschaftlichen Schaden, der durch den Lockdown entstanden ist, auszugleichen, wird jetzt das Geld künftiger Generationen ausgegeben. Wie steht es dann um die Gleichbehandlung?
Nur die anderen sind keine verschwindende Minderheit mehr, sondern viele: Alle über 65 und alle mit Vorerkrankungen, also Diabetes, Bluthochdruck, Krebs, usw. Vermutlich sind sie sogar die Mehrheit.
Also die sperren wir alle weg, damit die Hygiene-Demonstranten Party feiern können? Ich glaube ich muss nicht fragen, wem das gefällt.
Die wirtschaftlichen und gesellschaftliche Folgen einer ungebremsten Ausbreitung der Pandemie sind vermutlich deutlich schlimmer, als bei einer klug abwägenden Vorgehensweise.
Absolut unwürdig ist in meinen Augen, dass Schwerkranke oder Sterbende in Kliniken keine Begleitung durch ihre engsten Angehörigen haben dürfen.Inzwischen wohl in Einzelfällen möglich.
Es ist unwahrscheinlich, dass wir das Virus durch längere Quarantäne völlig besiegen, deshalb sollte die Verhältnismäßigkeit der Mittel gelten. Denn es gibt auf der anderen Seite Tote durch Selbstmorde aus Verzweiflung über die persönliche Situation, durch abgesagte Operationen...
(Zumindest in Ö.) habe ich als Mitglied der Risikogruppe 65+ die Wahl, was ich von den grundsätzlich allen Personen (außer Infizierten) offenstehenden Möglichkeiten nutzen will und was nicht. Das soll auch weiterhin so gelten.
Die Lockerung der Maßnahmen hängt von der Infektionsentwicklung ab, denn vor dem Auftreten von Symptomen kann niemand sagen, ob man infiziert ist oder nicht. Aktuell scheint das Ansteckungsrisiko in städtischen Ballungsgebieten am höchsten zu sein, 52 der heutigen 61 Neuinfektionen entfielen auf Wien (ähnlich war es auch in letzter Zeit). Vermutlich wirken die dort häufiger anzutreffenden Umluftanlagen als Virenschleudern wie auch bei Grippewellen.
Sie berücksichtigt nicht, dass viele Mitglieder von Risikogruppen in häuslicher Gemeinschaft leben mit Menschen, die nicht dazugehören. Zur Risikogruppe zählen ja nicht nur Menschen ab 65, sondern auch Menschen mit Vorerkrankungen, darunter Volkskrankheiten wie Bluthochdruck und Diabetes.
Vor allem aber: Akzeptiert man hohe Infektionszahlen in der Gesamtbevölkerung, kann man die Risikogruppen auch nicht mehr effektiv schützen - schließlich können sie nicht alle sozialen Kontakte vermeiden, schon allein deshalb, weil sie versorgt werden müssen und weil sie häufiger als andere ärztliche Hilfe brauchen.
Außerdem: Bis jetzt gibt es zwar Hoffnung auf einen Impfstoff, aber keinen Beweis, dass sich auch tatsächlich ein sicherer Impfstoff entwickeln lässt. Und bis jetzt ist auch nicht sicher, dass Corona-Infektionen keine langfristigen Schäden verursachen.