Pro und Contra
Ziviler Ungehorsam extrem: Ist das legitim?

Tobias März:
Ja, wir müssen
jetzt handeln!
Es gibt ein Instagram-Bild mit überschwemmten Autos aus dem Ahrtal, mit dem Text »Wann lässt uns Mutter Natur endlich in Ruhe mit ihren sinnlosen Störungen?« Dieser bittere Witz drückt es gut aus: Es ist hart, wenn unser Alltag erschüttert wird. Aber das ist es, was noch viel dramatischer auf uns zukommt: Fluten, Orkane, Hitzewellen. Dann wird es nicht um einen Stau an der Ampel gehen, sondern um überschwemmte Straßen, knappe Nahrungsmittel, Menschen auf der Flucht. Wenn wir über zwei Grad Celsius hinausschießen, blüht uns das große Chaos. Aber dann ist es wegen der klimatischen Kipppunkte zu spät.
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Heute haben wir noch eine kleine Chance, das Schlimmste zu verhindern. Also holen wir von der Letzten Generation mit Aktionen wie Straßenblockaden diese Dramatik ins Heute. Wir brauchen eine Regierung, die sofort entschlossen handelt. Noch können wir es schaffen: Raus aus Gas und Kohle, Umdenken in allen Sektoren, Gürtel enger schnallen.
In der Geschichte der Menschheit haben immer wieder Menschen wie Gandhi und Martin Luther King geltende Regeln friedlich gebrochen, um damit auf größeres Unrecht hinzuweisen. Sie hatten viele Feinde, haben es aber geschafft, mit ihren friedlichen Aktionen die Massen zu mobilisieren, sodass am Ende die Menschlichkeit siegte.
Die Kirche kann diesen zivilen Widerstand unterstützen, indem sie ihn anerkennt und uns an unsere fundamentalen Grundwerte erinnert.
Mit unseren Aktionen wollen wir Menschen und Regierung wachrütteln und eine Entscheidung herbeiführen: Wie wollen wir handeln in dieser historischen Situation? Wollen wir so weitermachen, oder wollen wir eine lebenswerte Zukunft für unsere Kinder und unsere Enkel?
Rainer Wendt:
Nein, mit
Sicherheit nicht!
Von Gesetzeshütern wird die Formel »Gesetz ist Gesetz« erwartet, die jede Form von Protesten, die von Rechtsverstößen begleitet ist, ablehnt. Aber so einfach ist es nicht. Die Geschichte ist voll von Beispielen, in denen Menschen gezielt gegen geschriebene Rechtsvorschriften verstoßen und damit positive Veränderungen bewirkt haben.
Also alles okay, wenn Extinction Rebellion oder andere Gruppen morgens im Berufsverkehr wichtige Verkehrsadern blockieren, sich von Autobahnbrücken abseilen oder wichtige Einrichtungen unserer Infrastruktur sabotieren? Mit Sicherheit nicht. Selbstverständlich berufen sie sich auf positive historische Vorbilder, das sichert den Applaus aus großen Teilen von Politik und Medien. Und doch sind die Unterschiede gravierend.
Es gehört zur Rhetorik radikaler Rechtsbrecher, sich das Etikett »gewaltfrei« anzuheften, das legitimieren soll, Rechtsgüter wie Freiheit, Leben und Gesundheit zu verletzen. Und es gehört zur journalistischen Tragik der Gegenwart, dass eine Prüfung unterbleibt und sie immer wieder als »Aktivisten« verharmlost werden. Doch es ist nicht gewaltfrei, wenn Menschen der Freiheit beraubt werden, sich ungehindert an ihren Zielort zu begeben, wenn Rettungswege blockiert und Unfälle provoziert werden, bei denen Menschen zu Schaden kommen.
Deutschland ist ein demokratischer Rechtsstaat. Nicht allen gefällt, was entschieden wird, aber es ist demokratisch legitimiert. Wenn es »um Leben und Tod« geht, dürfen Regeln aber außer Kraft gesetzt werden, behaupten die Rechtsbrecher unisono, und wann das ist, bestimmen sie selbst. Das darf nicht sein. Wenn jetzt keine klaren Grenzen gesetzt werden, ist der Rechtsstaat am Ende.
Ziviler Ungehorsam extrem: Ist das legitim?
Rainer Wendt ist Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft.
Ziviler Ungehorsam extrem: Ist das legitim?
Uns interessiert Ihre Meinung in der aktuellen Umfrage auf
www.publik-forum.de/umfrage
Ihre Argumentation baut auf einem ganz gefährlichen Missverständnis auf.
Wenn Sie von "Rechtsstaat" im Zsmh. mit dem NS-Staat und der DDR reden, dann meinen Sie einen "Gesetzesstaat". Hier geht es um den feinen Unterschied von Rechtspositivismus (etwas ist Recht, weil es als solches definiert wurde) und -normativismus (der Kern des Rechts ist - wenn man so will - naturrechtlich vordefiniert und Normen haben sich daran zu messen. Vgl. dazu die RADBRUCH'sche Formel).
Der Begriff "Rechtsstaat" bezeichnet schon per definitionem ein Konstrukt, dass sich an bestimmten Prinzipien, Grund- und Menschenrechten und Werturteilen zu orientieren hat. Beispiele sind der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der Gesetzesvorbehalt und -vorrang, Ewigkeitsgarantien, Bestimmtheitsgrundsatz, Rückwirkungsverbot usw.
Das NS-Reich stellte sein gesamtes "Recht", besser Gesetz, unter ein Primat der "Politik"! Prinzipien leiteten sich hier nur aus einer perversierten Ideologie, (vgl. C SCHMITT).
Unser Rechtsstaat wird sicher in Zukunft, wenn es eine gewandelte Gesellschaft nach großen Katastrophen gibt, zumindest teilweise, vielleicht in wesentlichen Punkten aus zukünftiger Sicht als Unrechtsstaat bezeichnet werden.
Bei unserem Projekt der verfolgten Sozialdemokraten 1933 – 1945 haben wir den Begriff „Strafhaft“ eingeführt, wenn ein Widerstandskämpfer zu Zuchthaus verurteilt wurde, weil er gegen damaliges Recht verstoßen hat. Heute sind diese wertvollen Menschen Wegweiser. Und so werden es auch in Zukunft diese Menschen sein, die Herr Tobias März als Vorbilder hervorhebt. Recht ist nichts Absolutes, sondern ein Spiegelbild einer Gesellschaft. Wir sollten uns fragen in welcher Gesellschaft wir heute leben.
Wer hier Gesetze bewusst verletzt, zieht sich damit ein Stück weit von dem demokratischen System zurück, in dem diese Gesetze aufgestellt wurden. Das ist brandgefährlich. Demokratie braucht unsere aktive Unterstützung - gerade jetzt!