Pro und Contra
Hat der Föderalismus ausgedient?
Georg Streiter:
Ja, wir brauchen mehr Gemeinsamkeit!
In seiner derzeitigen Form und Anwendung macht der Föderalismus Deutschland zunehmend schwer bis gar nicht mehr regierbar. Auf dem Gebiet der Bildungspolitik wissen wir es seit Jahrzehnten, haben uns aber seltsamerweise daran gewöhnt. Spätestens seit der Corona-Krise aber ist wieder offensichtlich: Es kann auf Dauer nicht funktionieren, dass jedes Bundesland macht, was es will. Trotz Sehnsucht nach Vielfältigkeit muss es mehr Gemeinsamkeit als Element der staatlichen Ordnung geben. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben sich nach dem Krieg viel Mühe gegeben, die Macht in Deutschland so zu verteilen, dass die Bundesregierung nicht Alleinherrscher werden kann. Die Organisation als föderaler Bundesstaat schreibt das Grundgesetz vor. Die Gesetzgebungsgewalt liegt grundsätzlich bei den Ländern – Ausnahmen sind aufgeführt. Das kann auf Dauer nur funktionieren, wenn die Länder zusammenarbeiten. Sie tun es aber nicht. Die Länder begreifen sich vielfach als Konkurrenten im Kampf um Zuwendungen des Bundes. Egoismus statt Solidarität – das wird nicht ewig gutgehen.
Eine Lösung wäre die Reduzierung der Zahl der Bundesländer. 16 Länder und Verwaltungsapparate sind zu viel. Zu viele Koalitionen, zu viele Personen, zu viele Interessen. Es ist auch nicht gut, dass zum Beispiel das Saarland (987 000 Einwohner) die gleiche Macht zur Blockade hat wie Nordrhein-Westfalen (18 Millionen Einwohner). Acht Länder würden reichen. Oder auch vier. Die Erfolgsaussichten für eine Neuordnung des Bundesgebiets sind allerdings miserabel. Ein zielführender Ausweg wäre, die Gesetzgebungskompetenz des Bundes zu erweitern. Etwa auf die Bereiche Bildung, Digitalisierung und Gesundheit. Eine Anstrengung wäre es wert!
Ursula Münch:
Nein, er ist gute deutsche Tradition!
Der Föderalismus hat definitiv nicht ausgedient. Zweifelsohne: Die vielen regionalen Besonderheiten beim Infektionsgeschehen zu berücksichtigen bringt Uneinheitlichkeit im Detail hervor. Aber das ist angesichts der jeweiligen Gegebenheiten vor Ort angemessen. Und der gern kritisierte große Einfluss der Ministerpräsidenten entspricht der deutschen Tradition des sogenannten Exekutiv-Föderalismus. Unsere Länder – von denen die meisten bereits vor der Bundesrepublik bestanden und schon deshalb nicht als Bundesländer bezeichnet werden sollten – sind aus gutem Grund nicht lediglich Verwaltungseinheiten zur Ausführung der Entscheidungen von oben. Sie besitzen vielmehr Staatscharakter und eigene Handlungsmacht, auch bei der Umsetzung des Bundesinfektionsschutzgesetzes.
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Dass bei uns auch während der Corona-Krise nicht die Stunde der einen (zentralstaatlichen) Exekutive schlägt, sondern die Stunde »der Exekutiven« im Bund und der 16 Länder sowie durchaus auch der Kommunen, ist sinnvoll: Nicht einmal in Zeiten der Pandemie sollte »durchregiert« werden. Das ist noch keiner freiheitlichen Demokratie gut bekommen. In der Krise sind exekutive Schnelligkeit und nicht zeitraubende Reflexion gefragt. Gefolgt wird Führungspersönlichkeiten und nicht Gremien. Die parlamentarische Opposition spielt daher während der Pandemie als kontrollierende Instanz keine bestimmende Rolle. Umso wichtiger ist es, dass in unserem politischen System ungewöhnlich viele Formen der Gewaltenkontrolle verankert sind: Der Föderalismus ist eine davon.
Ja, es stimmt: Föderale Entscheidungsfindung ist mühsam. Aber dieser Nachteil birgt einen Vorzug, auf den eine freiheitliche Demokratie in Zeiten von Allgemeinverfügungen auf keinen Fall verzichten kann: Machtkontrolle.
Georg Streiter, geboren 1955, ist gelernter Journalist und war von 2011 bis 2018 stellvertretender Sprecher der Bundesregierung.
Ursula Münch, geboren 1961, ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr in München sowie Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing.
Lutz Tauber 27.12.2020, 17:02 Uhr:
Die Coronazeiten mit dem Hick-Hack der einzelnen Länder hat doch überdeutlcih gezeigt, dass der Föderalismaus sich ad absurdum führt.Diese Kleinstaaterei hat doch Deutschland seit der Reformationszeitsoviel Elend gebracht. Wenn man dazu noch bedenkt , dass 16 Ministerpräsidentengehälter und die dazugehörige Hofhaltung gespart werden könnten - unglaublcih, was man mit diesen Geldern alles finanziern könnte. Da labt man sich doch einen Zentralstaat wie Frankreich oder die anderen Länder um uns herum.
Georg Lechner 21.12.2020, 18:27 Uhr:
Die Frage der Machtkontrolle ist an viel entscheidenderer Stelle ausgehebelt, nämlich im Parlament. Wer sich dort den Vorgaben aus der Parteizentrale (die ihrerseits von den Interessen mächtiger Lobbies und ihrem medialen Echo im Boulevard bestimmt werden) widersetzt, hat wenig Chancen auf eine Wiederwahl in der nächsten Legislaturperiode.
Ein ähnliches Problem stellt sich auf der nächsthöheren Ebene, nämlich der EU. Hier wirkt die Abhängigkeit der nationalstaatlichen Regierungen von den mächtigen Kapitalinteressen (Apple, Amazon, ...) lähmend auf die Konsensfindung und die so notwendige Umstrukturierung auf eine zukunftsfähige Finanzierung, dass es ein Graus ist. Mindestens 1,5 Billionen € jährlich entgehen den Staaten der EU infolge der fehlenden Harmonisierung der direkten Steuern und durch Steuerhinterziehung via Briefkastenfirmen und Kryptowährungen - Selbstverzwergung der EU durch gegenseitiges Austricksen im EU-Rat.
Gerhard 21.12.2020, 16:23 Uhr:
M.E. sind beide Positionen nicht tragbar. Das dauernde Hickhack um Schulabschlüsse und der Corona-Flickenteppich zeigen deutlich, dass die Länder zu viele Kompetenzen haben. Zusammenlegen von Ländern kann aber keine Lösung sein. Für sehr viele Deutsche gehört die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Bundeland zur eigenen Identität, speziell im Süden ist die Identifikation mit dem eigenen Bundesland sogar oft stärker als die mit Deutschland. Richtig wäre, diese Bindungen zu erhalten, aber einige Kompetenzen zum Bund zu verlagern, wo sie hingehören.
Walter Hanz 19.12.2020, 14:09 Uhr:
Ich finde es gut und sehr vernünftig, dass es unsere Verfassung gibt, nach der das Parlament und die Länderkammer fast gleichberechtigt in der Gesetzgebung sind.
In der Corona-Pandemie könnte jedes Gesundheitsamt selbstständig erforderliche Maßnahmen festlegen, ohne auf die politische Führung zu hören. Leider verstecken sich die Gesundheitsamtsleiter als Beamtenseelen lieber hinter der politischen Führung.
Ich bedauere sehr. dass ich nur alle 4 oder5 Jahre wählen kann!
Der Mensch/Bürger sollte im Vordergrund stehen und nicht die Interessen einzelner Gruppierungen.