Pro und Contra
Ist die elektronische Patientenakte in ihrer jetzigen Form hilfreich?

Boris Augurzky: Ja!
Wer kennt das nicht: Man gibt in der Arztpraxis eine Urinprobe ab. Es soll eine Bakterienkultur angelegt werden, um mehr Erkenntnisse zu gewinnen. Zwei Tage später liegen sie vor, aber telefonisch ist die Praxis nicht erreichbar. Also gilt es, den Weg zur Praxis zu gehen, sich in die Schlange mit zehn anderen Patienten einzureihen, um vor Ort das Laborergebnis zu erfahren. Das ist nicht selten die Realität in deutschen Arztpraxen. Technologisch befinden wir uns also im 20. Jahrhundert
Wer hingegen ein Paket bestellt, kann auf dem Handy nachverfolgen, wo es sich gerade befindet und wann es ungefähr zu Hause ankommt. Selbst die Deutsche Bahn hat eine App, die über den Status ihrer Zugverbindungen informiert. Und Geldgeschäfte tätigen die meisten Menschen online.
Als Patient wünsche ich mir, dass ich all meine Gesundheitsdaten immer bei mir hätte. Ich möchte keinen Impfausweis suchen und Ergebnisse von Allergietests in Ordnern herauskramen müssen, Röntgenbilder auf einer CD, die mein Computer nicht mehr lesen kann, extrahieren oder erraten müssen, wie das Arzneimittel, das ich vor einem Jahr bekam, hieß und wie die Diagnose damals lautete.
Ich möchte, dass all diese für mich so wichtigen Daten digital und gut organisiert in einer App zugänglich sind, dass ich jederzeit Zugriff auf sie habe. Auch möchte ich, dass eine künstliche Intelligenz sie sogar irgendwann aufbereitet und auswertet, dass ich entscheiden kann, wer die Daten einsehen darf und wer nicht. Ich würde mich freuen, wenn im Notfall der Rettungsdienst darauf zugreifen könnte. All dies ist bereits technisch möglich und existiert in der einen oder anderen Form in anderen Ländern. In Deutschland aber nicht, obwohl wir seit 20 Jahren daran arbeiten. Es wurde Zeit, dass nun die ersten sichtbaren Schritte in diese Richtung unternommen wurden.
Dabei möchte ich natürlich, dass meine Daten vor dem Zugriff unbefugter Personen in höchstem Maße geschützt sind. Hacker müssen draußen bleiben. Das sollte machbar sein. Im Onlinebanking, hinter dem ebenso vertrauliche Daten stehen, geht es auch. Und wer der Sache noch nicht traut, kann noch abwarten. Für mich ist jedenfalls klar: Die elektronische Patientenakte würde Ordnung in meine Gesundheitsdaten bringen, würde Zusammenhänge in den Daten erkennen, die kein Arzt erkennen kann, weil er nie alle Daten auf dem Tisch liegen hat und auf einmal verarbeiten kann. Sie würde mich deshalb irgendwann auch unabhängig beraten können. Gerade in einer Welt, in der viele Arztpraxen mangels Nachwuchses keine Nachfolger finden und schon heute nicht mehr ans Telefon gehen können, ist das Gold wert.
Eugen Brysch: Nein!
Die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) ist richtig und wichtig. Angesichts 20-jähriger Vorlaufzeit und Milliarden Kosten war der Start längst überfällig. Allerdings ist die Marktreife dieses Produkts anzuzweifeln. Für chronisch kranke, pflegebedürftige und alte Menschen bietet die E-Akte kaum einen Mehrwert. Denn Altbefunde fehlen und die zu erwartende Informationsfülle wird Ärzte im Praxisalltag überfordern. Schließlich besteht die ePA nur aus gescannten Dokumenten. Jede Datei ist zu sichten, um behandlungsrelevante Fakten herauszufinden. Die Hinterlegung einer künstlichen Intelligenz fehlt. Doch erst die Filterung, Verknüpfung und Analyse der Datenmengen bringen den entscheidenden Vorteil.
Zudem muss auch technikunerfahrenen Menschen die uneingeschränkte Nutzung ihrer ePA ermöglicht werden. Dazu zählen mehr als 20 Prozent der über 65-Jährigen. Außerdem ist es fahrlässig, dass bestimmte Patientengruppen wie etwa psychisch erkrankte Patienten keine höhere Datenschutzstufe haben.
Auch ist das Verbergen von Informationen für einzelne Leistungserbringer nun nicht mehr möglich. So erhält auch ein Orthopäde Einblick, dass der Patient in jahrelanger psychotherapeutischer Behandlung ist, selbst wenn der Patient diese Information nur für neurologische Fachärzte zur Verfügung stellen will. Wird diese Auskunft aber für den Orthopäden gesperrt, wird sie für alle Ärzte geblockt. Will der Versicherte jedoch den Orthopäden von einem bestimmten Dokument ausschließen, bleibt nur die Möglichkeit, diesem Facharzt den kompletten Zugriff zu verweigern. Damit hätte der Orthopäde auch keine Chance, für ihn relevante Ergebnisse anderer Fachärzte einzusehen.
Für Versicherte wird die Steuerung ihrer Daten somit zu einer Herausforderung. Die Gefahr ist groß, dass so die gesamte Gesundheitswirtschaft den kompletten Zugriff auf die eigenen Gesundheitsdaten erhält. Grundsätzlich können Leistungsanbieter 90 Tage darauf zugreifen. Nur bei Rettungssanitätern und Werksärzten ist das auf drei Tage begrenzt. Auch die Apotheken haben Einsicht in die kompletten Krankendaten. Doch nicht jeder Patient möchte den Suizidversuch vom Beschäftigten in der Apotheke gelesen wissen. Es wurde die Chance verpasst, echte Differenzierungsmöglichkeiten zu etablieren.
Ein Problem bleibt die Datensicherheit. Die sensiblen Daten dürfen nicht leichtfertig in falsche Hände geraten. Die neue Bundesregierung ist daher aufgefordert, die ePA so lange zu stoppen, bis Differenzierungsmöglichkeiten sichergestellt und weitere Schwachstellen behoben sind.
Boris Augurzky ist Gesundheitsökonom und Vorsitzender der Rhön-Stiftung, die Forschung in der Gesundheitswirtschaft fördert.
Eugen Brysch ist Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz.
