Pro und Contra
Mit Weihnachtsbräuchen brechen?
Ulrike Scheffer:
Ja, sie sind nicht mehr wichtig!
Es mag abgeschmackt klingen, aber Weihnachten unter Corona-Bedingungen ist eine echte Chance, mit schlechten Traditionen zu brechen. Weniger ist mehr – auch so eine Floskel –, die aber gerade für Weihnachten kaum besser passen könnte. Als besinnliches Fest jedenfalls wird die Geburt Christi in den wenigsten Familien gefeiert. Stattdessen ist viel von Weihnachtsstress die Rede, weil jede Menge Geschenke gekauft werden, die Wohnung aufgeräumt und dekoriert werden muss, der passende Wein besorgt und ein aufwendiges Menü gelingen soll. Selbst für den Baumschmuck sind immer neue kreative Ideen gefragt. Und streiten Familien unter dem Weihnachtsbaum nicht sogar häufiger als an jedem anderen Feiertag im Jahr? Natürlich, man geht auch in die Kirche, doch die vielen Gottesdienstbesucher, die an normalen Sonntagen lieber ausschlafen, finden sicher nicht ausgerechnet an den vollgepackten Feiertagen den Weg zurück zu Gott.
Weihnachten steht seit Langem vor allem für Konsum, für maßlose Völlerei und auch für Heuchelei. Ein Fest der Liebe ist es kaum noch. Ein christliches Fest schon gar nicht. Doch genau das kann es in diesem Jahr wieder werden – wenn wir nicht nur die sozialen Kontakte runterfahren, sondern auch das ganze Drumherum. Der alleinstehende Großvater oder die ältere Nachbarin darf ruhig dabei sein, schließlich soll an Weihnachten niemand einsam sein. Tante und Onkel hingegen und auch die Schwester samt Anhang kann man bei anderer Gelegenheit viel entspannter treffen. Ohne Stau auf der Autobahn oder Gedränge im Zug. In letzter Konsequenz geht es schließlich um die Frage: Wer möchte verantwortlich sein, wenn auch nur einer unserer Liebsten nach dem Fest mit Atemnot ins Krankenhaus muss?
Eva-Maria Lerch:
Nein, das Leben braucht Hochfeste!
Es ist tatsächlich nicht immer bloß schön und erhaben, ein traditionelles Weihnachtsfest zu feiern. Meistens macht es einen Haufen Stress, den Baum, das Essen und die Geschenke zu besorgen, womöglich auch noch Plätzchen zu backen, Karten an fast vergessene Freunde zu schreiben und dem Zeitungsboten noch schnell einen geldscheingefüllten Gruß vor die Tür zu legen. Dann steht oft noch der Tannenbaum schief, brennt der Braten an, liegen Geschenke doppelt auf dem Gabentisch, fährt man in der Hektik auf dem Weg zur Christmette eine Beule ans Auto. All das habe ich an Weihnachten schon erlebt. Und trotzdem bin ich sicher, dass wir dieses Hochfest in all seiner Üppigkeit brauchen – und es unbedingt feiern müssen.
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Für Christen bringt das Fest der Menschwerdung Gottes in jedem Jahr die Zusage einer göttlichen Gegenwart in unsere profane Welt. Noch der kitschigste Glitzerengel und das seichteste Weihnachtslied ist Ausdruck dieses tiefen menschlichen Bedürfnisses nach einer Bejahung unserer Existenz. Man muss nicht mal Christ sein, um das zu spüren. Menschen brauchen Haltepunkte, Jahresrhythmen und Rituale, die ihnen Orientierung und Verbundenheit vermitteln. Auch der Überfluss, der Stress, die Pannen und Peinlichkeiten, die jedes Jahr an Weihnachten passieren, gehören dazu.
Der Soziologe Hartmut Rosa hat den Begriff der »Resonanz« geprägt, er beschreibt den vibrierenden Draht, der Menschen untereinander und mit der Welt verbindet. Diese Resonanz entsteht am ehesten dort, wo es kollektive Zeiten gibt, in denen alle gleichzeitig aus den Zwängen der Effektivität aussteigen. Wo sie scheinbar nutzlose Dinge tun wie Bäume mit bunten Kugeln zu behängen und Beziehungen in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit zu stellen. Und gerade in diesem krisengeschüttelten Jahr 2020 können wir darauf nicht verzichten.
und den östlichen
Bundesländern.
Eva-Maria Lerch, ist Redakteurin im Ressort »Leben und Kultur« von Publik-Forum.
Georg Lechner 09.12.2020, 18:26 Uhr:
Ich stimme Frau Lerch zu, dass das Leben Feste braucht. In der Gestaltung der Feste neige ich aber mehr der Position von Frau Scheffer zu.
Maximilian Klausner 09.12.2020, 10:22 Uhr:
Tradition bedeutet für mich: durch meine Lebenserfahrung eine Basis, einen Rückbezug haben. Das ist zunächst wertfrei; erst wenn ich es aus meiner Grundhaltung heraus, auf meine Wertevorstellung bezogen bewerte, kann Tradition zu dem werden, worauf ich stehe. Und da ich weiter Lebenserfahrungen sammle, ist Tradition etwas sich weiterentwickelndes.
Letztlich heißt das auf die Fragestellung bezogen: Weihnachten ist ein Familienfest, und wenn die Familie einen Weihnachtsbrauch pflegen will, dann soll die Familie entscheiden, nicht eine wie auch immer geartete Öffentlichkeit.
Nachsatz: Meine Enkel (3 bis 8) sitzen immer ganz konzentriert um mich herum, wenn ich ihnen erzähle, wie wir in meiner Kindheit Weihnachten gefeiert haben. Und meine Kinder greifen diese Erinnerungen auf, indem sie sie als Tradition für ihre Kinder weiterentwickeln.
Andreas Paustian 07.12.2020, 07:30 Uhr:
Wir sind in diesem Jahr zum ersten Mal seit 37 Jahren ohne Besucher/ Gäste an den Feiertagen ganz allein mit uns. Seit einem Jahr sind nun alle sechs älteren und kranken Menschen, Elternteile und Freunde, die abwechselnd und gleichzeitig zu Weihnachten bei uns waren, verstorben.
Wir freuen uns darauf, niemandes Erwartungen an dieses Fest berücksichtigen zu müssen und sind auch einverstanden, dass deren traditionellen Beiträge (einer schmückte gerne, andere legten Wert darauf, dass es zu essen gibt, was sie schon als Kinder bekamen, z.B. Karpfen oder Heringssalat) dieses Jahr keine Rolle spielen.
Wir dürfen nun und müssen auch ganz neu für uns entscheiden. Da wir konsequent seit etwa 25 Jahren keine Geschenke gemacht und auch unsere Besucher sich danach verhalten haben, fällt das Einkaufen weg. Was an vorbereitenden Mühen bleibt, ist dann noch wenig. Also: Tradition ja - aber selbst gemacht, gut bedacht und vor allem immer offen für NEUES.
Klaus Schmidt 01.12.2020, 20:43 Uhr:
Vieles zu Weihnachten ist legendenhaft, das Datum (wir wissen den Geburtstag unseres Bruders Jesus nicht, aber wissen von Kaiser Decius' Versuch, den unbesiegbaren Sonnengott zur Wintersonnenwende neu zu kreieren); genau so legendenhaft sind Krippe, Hirten, Heilige Drei Könige; die Jungfrauengeschichte (für mich war Josef der biologische Vater). Aber darum geht es gar nicht, denn dies sind Punkte, die auch in den Kirchen diskutiert werden müssen. -- Weihnachten in der traditionellen Form hat noch eine ganz andere Aufgabe, mit seiner Tradition schafft es immer wieder neu eine Art Heimat, in den Familien (die schätze ich immer noch), für unsere Kinder, und hier verbinden wir uns mit mindestens 1000 Jahren Tradition. Wenn wir dieses jedoch aufgeben, überlassen wir die Nachwachsenden allein dem Konsumrausch "Weihnachten" (der bleibt dann noch wirkungsvoller), dem sinnleeren Karneval, importiertem Kram wie Halloween. Und so bleibt mir Weihnachten wertvoll.