Pro und Contra
Kirchengemeinde ade?
Holger Pyka:
Ja, zumindest mancherorts!
Der Wohnsitz ist nur ein Faktor, der das Leben eines Menschen bestimmt. Wo ich gemeldet bin, entscheidet nicht darüber, wo ich arbeite oder meine Freizeit verbringe. Auch nicht darüber, ob ich in der zufällig für mich »zuständigen« Kirchengemeinde Heimat finde.
Es gibt Kirchengemeinden, die im Quartier präsent sind und deren Gebäude und Protagonisten wichtige Identifikationsfaktoren darstellen. Aber vielerorts funktioniert das nicht mehr. Wo auch ohne Corona Veranstaltungen nur noch Besucherzahlen im einstelligen Bereich erreichen, ist die Kirche nicht mehr Volkskirche, sondern nur Kirche für einige wenige. Sehr wenige. Wie viel Energie haben wir noch für das krampfhafte Festhalten an Strukturen, die sich spätestens in einer halben Generation überlebt haben? Die EKD-Mitgliederstudie hat gezeigt, dass »die Kirche« weitaus weniger mit Gebäuden oder Personen identifiziert wird, als gedacht. Entscheidender sind gottesdienstliche Vollzüge und soziales Engagement. Im Lockdown sind vor allem Aktivitäten erfolgreich gewesen, die Gottesdienst und Sozialarbeit an anderen Orten erlebbar gemacht haben: am Küchentisch, im Internet, bei Whatsapp oder am Schwarzen Brett des Supermarkts.
Wir brauchen Aufbrüche und Initiativen vor Ort, die nicht auf die vermeintliche Strahlkraft von Kirchtürmen setzen oder auf ein ererbtes, aber bröckeliges Vertrauen in kirchliche Amtsleute. Möglich, dass solche Gemeinden flüchtiger sind, aber sie sind auch beweglicher. Und noch bietet die finanzielle und juristische Verfasstheit der Kirche eine Gestaltungsfreiheit wie sonst kaum irgendwo.
Kirche ist ohne Gemeinde nicht denkbar. Aber wir unterschätzen die Kraft des Heiligen Geistes, wenn wir Gemeinde nur auf eine bestimmte Sozialform festlegen.
Isolde Karle:
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Nein, Gemeinden sind das Rückgrat!
Ohne Kirchengemeinden hat die Kirche keine Zukunft. Vor Ort ist es möglich, Menschen niedrigschwellig zu begegnen und sie seelsorglich in ihren Nöten und Ängsten zu begleiten. Die Corona-Krise hat das eindrucksvoll vor Augen geführt. Während übergemeindliche Initiativen in ihren Handlungsmöglichkeiten stark eingeschränkt waren, entwickelten die Gemeinden viel Fantasie, um in Kontakt zu alten, einsamen und kranken Menschen zu treten und coronagerechte Gemeinschaftsformen zu entwickeln.
Gemeinden pflegen eine Stetigkeit interaktiver Sozialformen, die Identifikation ermöglicht und Vertrauen entstehen lässt. In aller Unvollkommenheit halten sie eine facettenreiche Kultur der Begegnung, des Gesprächs, des gemeinsamen Feierns und diakonischen Handelns wach. Soll der Glaube lebendig bleiben, ist er darauf angewiesen, mit anderen alltagsnah geteilt zu werden. Vor allem für Kirchendistanzierte ist entscheidend, dass die Kirche lokal erreichbar ist. Sie sind dankbar, wenn sie im Krisenfall auf einen Pfarrer, eine Pfarrerin zurückgreifen können, der oder die sie an den Wendepunkten des Lebens begleitet und ein existenzielles Lebensereignis religiös zu deuten und rituell zu begehen weiß.
Der Rückgang finanzieller Ressourcen wird unweigerlich dazu führen, Gemeinden zusammenzulegen und Pfarrstellen zu streichen. Doch einer »Bewegungskirche« fehlt das institutionelle Rückgrat, wenn sie sich nicht auf lokale Gemeinden stützen kann. Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD zeigen, dass auch unter gegenwärtigen Bedingungen die Kirche vor Ort – mit dem Kirchengebäude und den Pfarrerinnen und Pfarrern als Schlüsselfiguren – von identitätsstiftender Bedeutung ist. Es ist für die Kirche elementar, ihre bewährten Sozialformen so weit wie möglich aufrechtzuerhalten.
Isolde Karle ist Professorin für Praktische Theologie und Direktorin des Instituts für Religion und Gesellschaft an der Ruhr-Universität Bochum.
Heiner Macher 26.08.2020, 13:31 Uhr:
Bei dieser Frage hätte ich mir eine neutrale Antwort wie "das kann ich nicht beurteilen" gewünscht.