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Dieser Artikel stammt aus
Publik-Forum, Heft 5/2021
Der Inhalt:
Politik & Gesellschaft

Pro und Contra
Sind wir in Afghanistan gescheitert?

vom 09.03.2021
Im Bundestag wird bald über eine Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes abgestimmt. Doch hat der überhaupt etwas gebracht? Die Regierung in Kabul verhandelt mit den Taliban über Frieden, während große Teile des Landes längst von ihnen beherrscht werden. Hat die Internationale Gemeinschaft versagt? Stimmen Sie hier ab!
Afghaninnen auf einem Bazar in Kabul (Foto: PA/AA/Haroon Sabawoon)
Afghaninnen auf einem Bazar in Kabul (Foto: PA/AA/Haroon Sabawoon)

Winfried Nachtwei:

Ja, und wir sollten daraus lernen!

Vor fast zwanzig Jahren begann der internationale Afghanistaneinsatz, der mit der Zeit zum größten, kompliziertesten, teuersten und bei Weitem opferreichsten Kriseneinsatz der (westlichen) Staatengemeinschaft, der Nato und Deutschlands wurde. Der vor allem von den USA geführte Antiterrorkrieg war ein Desaster. 2017 berichtete die US-Regierung, es gebe in Afghanistan/Pakistan weltweit die größte Konzentration von Terrorgruppen.

Dieser Artikel stammt aus Publik-Forum 05/2021 vom 12.03.2021, Seite 8
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Nach dem schnellen Sturz der Taliban sollte das von 23 Kriegsjahren zerrüttete Afghanistan im Auftrag der Uno stabilisiert, sollten verlässliche Staatlichkeit und Entwicklung gefördert und durch die internationale Unterstützungstruppe Isaf abgesichert werden. So berechtigt die Oberziele des internationalen Einsatzes und so hoffnungsvoll die ersten vier Jahre waren, so widersprüchlich und unrealistisch war die Umsetzung. Ein Teil der Bevölkerung erlebte Fortschritte in der Gesundheitsversorgung, der Bildung, neue Freiheiten. Erfolgreich waren lokal eingebettete Projekte.

Bei zwanzig Besuchen vor Ort habe ich sehr viele zivile, militärische und polizeiliche Entsandte kennen und ihre Leistungen hoch schätzen gelernt. Sie arbeiteten für mehr Frieden. Aber die zentralen Sicherheits- und Aufbauziele wurden nicht erreicht. Sicheres Umfeld? 2019 entfielen 41 Prozent aller Terrortoten weltweit auf Afghanistan. Der afghanische Staat gilt als extrem korrupt. Mehr als die Hälfte der Menschen lebt unterhalb der Armutsgrenze. Gravierende Fehler der Staatengemeinschaft trugen wesentlich dazu bei: mangelndes Konfliktverständnis, strategische Dissense, Machbarkeitsillusionen, mangelnde Evaluierungen, verpasste Chancen. Es war ein kollektives politisches Führungsversagen in vielen Hauptstädten, aus dem endlich gelernt werden muss.

Ellinor Zeino:

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Nein, es gibt heute starke zivile Kräfte!

Afghanistan befindet sich noch immer in einer gesellschaftspolitischen Umbruchphase. Der Entwicklungsprozess ist nicht abgeschlossen, die Wunden des Bürgerkriegs nicht verheilt. Das Land ist heute jedoch ein anderes als noch vor zwanzig Jahren, als die Taliban es beherrschten. Die Errungenschaften liegen vor allem in der Meinungsfreiheit, einer offenen Debattenkultur und einem Medienpluralismus, der einzigartig in der Region ist und sich deutlich von den staatlich kontrollierten Medien in den Nachbarstaaten unterscheidet. Afghanistan hat eine breite, aktive Zivilgesellschaft. Frauen sind in Regierung und Parlament, in Gerichten und Sicherheitskräften vertreten, genießen Bildung.

Der Westen und die internationale Gemeinschaft mussten sich jedoch teils von früheren Zielen und Erwartungen verabschieden. Der internationale Afghanistan-Einsatz wurde zum Lernprozess für alle Beteiligten. Heute wird der Friedensprozess und die Aushandlung einer neuen Staats- und Gesellschaftsordnung als innerafghanische Angelegenheit bewertet. Die neue Ordnung muss, wenn sie einen nachhaltigen Frieden schaffen soll, ein inklusiver Kompromiss sein, in dem sich alle Seiten wiederfinden. Eine stabile Ordnung muss die lokalen Realitäten widerspiegeln und die Diversität der Lebenswelten auf Basis einer friedlichen Koexistenz schützen.

Afghanistan steht heute an einem Wendepunkt. In welche Richtung sich das Land und der Friedensprozess entwickeln, ist unklar. Seit zwanzig Jahren war Afghanistan noch nie so nah an einer politischen Verhandlungslösung zwischen Verfechtern einer afghanischen Republik und der radikal-islamischen Taliban-Bewegung. Eine Erfolgsgarantie gibt es nicht. Es wäre aber ein Fehler, das Land als gescheitert aufzugeben.

Die Umfrage ist vorbei: so haben unsere Leser abgestimmt!

Sind wir in Afghanistan gescheitert?

Im Bundestag wird bald über eine Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes abgestimmt. Doch hat der überhaupt etwas gebracht? Die Regierung in Kabul verhandelt mit den Taliban über Frieden, während große Teile des Landes längst von ihnen beherrscht werden. Hat die Internationale Gemeinschaft versagt? Stimmen Sie hier ab!
38 x Ja, und wir sollten daraus lernen!
18 x Nein, es gibt heute starke zivile Kräfte!
insgesamt abgegebene Stimmen: 56
68%
Schlagwörter: AfghanistanTaliban
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Willi Holler 27.08.2021, 20:47 Uhr:
Es ist traurig das wir die Helfer nach Deutschland holen sollen da Sie in dem Land Afghanistan doch dringend benötigt werden. Wir holen einen Helfer und der bringt uns gleich den ganzen Klan mit. Menschen die nicht in unser System passen. Die eine ganz andere Mentalität haben und einen Glauben leben der unsere Lebensweise nicht akzeptieren kann und will. Lasst die Menschen dort wo Sie zuhause sind große Dinge tun. Warum ducken sich 30.000.000 Menschen vor ein paar Taliban. Sind es alle Feiglinge. Geht auf die Straßen. Macht eure Meinung kund. Ja das kostet Mut. Aber nur so geht es vorran in einer Demokratie.

Bernd 16.08.2021, 02:21 Uhr:
Schade ist es das so viele Milliarden völlig umsonst waren, deshalb nicht nochmal!!!

Gustav Haab 17.03.2021, 08:08 Uhr:
Es kann meines Erachtens keine schwarz-weiß Antwort geben. Die Chance liegt lediglich darin, abendländisches und morgenländisches Denken in Austausch zu bringen: Das können politische oder religiöse Stiftungen sein. Prof. Küng hat es auf den Punkt gebracht: Es kann keinen Weltfrieden geben ohne einen Frieden zwischen den Weltreligionen! Afghanistan könnte ein Tor dazu sein. Dazu bedarf es noch viel Zeit und Geduld.

Reinhard Raschke 15.03.2021, 11:16 Uhr:
Der dümmste Spruch der letzten Jahrzehnte war, dass Deutschlands Freiheit am Hindukusch verteidigt wird. Durch den Bundeswehr-Einsatz dort haben wir uns den islamistischen Terror erst ins Land geholt, weil die ausländischen Armeen dort als Besatzer angesehen werden von den Islamisten.

Georg Lechner 13.03.2021, 18:20 Uhr:
Der militärische Einsatz war von Anfang an verkorkst, denn es ging primär um geostrategische Interessen (siehe auch den Beitrag von Hans-Ulrich Seidt in "Orient" 3/2004) und eben nicht um die Stärkung zivilgesellschaftlicher Kräfte. Daher war den USA (entgegen den äußeren Floskeln) das Engagement deutscher und italienischer Soldaten ein Dorn im Auge. Diese Situation bildet auch den Hintergrund des Krimis "Brennende Kälte" von Wolfgang Schorlau.

Franz Foltz 12.03.2021, 16:36 Uhr:
Kabul ist nicht Afghanistan und es ist sicher das Vorrecht von Frau Heino, die Debatte unter dem Aspekt positiver Erfahrungen im Land zu beurteilen. Aber als interessierter Beobachter der Berichterstattung über Afghanistan in verschiedenen Medien muss ich Herrn Nachtwei Recht geben; sollten sich die Isaf Streitkräfte zurück ziehen, erwarte ich eine erneute Machtübernahme durch die Taliban.

thomasruttig 11.03.2021, 09:37 Uhr:
natürlich ist der afghanistan-einsatz gescheitert. der krieg dauert weiter a., in anwesenheit westlicher truppen ist er der intensivste konflikt weltweit geworden – mit 30% aller kriegsopfer im letzten jahr, dem weltweit größten anteil . die materiellen kriegsschäden betrugen im letzten jahr 51% des bruttoinlandsprodukts. der anteil der beveölkerung unter der armutsgrenze war schon vor ausbruch der coronakrise wieder so hoch wie beim sturz der taleban (über 60% laut weltbank, über 80% laut UNO). welche maßstäbe für ein scheitern braucht man sonst noch?
das bedeutet natürlich nicht, dass man afghanistan "aufgeben" soll - aber hierzulande sollte man sich klar darüber werden, dass wir zu dieser katastrophe (für die afghanischen menschen!) beigetragen haben. deshalb muss man daraus auch lernen, wie w. nachtwei schreibt. aber die bundesregierung verweigert eine unabhängige, öffentliche gesamtevaluierung des einsatzes.
thomas ruttig, ko-direktor afghanistan analysts network (kabul/berlin)

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