Pro und Contra
Sind wir in Afghanistan gescheitert?

Winfried Nachtwei:
Ja, und wir sollten daraus lernen!
Vor fast zwanzig Jahren begann der internationale Afghanistaneinsatz, der mit der Zeit zum größten, kompliziertesten, teuersten und bei Weitem opferreichsten Kriseneinsatz der (westlichen) Staatengemeinschaft, der Nato und Deutschlands wurde. Der vor allem von den USA geführte Antiterrorkrieg war ein Desaster. 2017 berichtete die US-Regierung, es gebe in Afghanistan/Pakistan weltweit die größte Konzentration von Terrorgruppen.
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Nach dem schnellen Sturz der Taliban sollte das von 23 Kriegsjahren zerrüttete Afghanistan im Auftrag der Uno stabilisiert, sollten verlässliche Staatlichkeit und Entwicklung gefördert und durch die internationale Unterstützungstruppe Isaf abgesichert werden. So berechtigt die Oberziele des internationalen Einsatzes und so hoffnungsvoll die ersten vier Jahre waren, so widersprüchlich und unrealistisch war die Umsetzung. Ein Teil der Bevölkerung erlebte Fortschritte in der Gesundheitsversorgung, der Bildung, neue Freiheiten. Erfolgreich waren lokal eingebettete Projekte.
Bei zwanzig Besuchen vor Ort habe ich sehr viele zivile, militärische und polizeiliche Entsandte kennen und ihre Leistungen hoch schätzen gelernt. Sie arbeiteten für mehr Frieden. Aber die zentralen Sicherheits- und Aufbauziele wurden nicht erreicht. Sicheres Umfeld? 2019 entfielen 41 Prozent aller Terrortoten weltweit auf Afghanistan. Der afghanische Staat gilt als extrem korrupt. Mehr als die Hälfte der Menschen lebt unterhalb der Armutsgrenze. Gravierende Fehler der Staatengemeinschaft trugen wesentlich dazu bei: mangelndes Konfliktverständnis, strategische Dissense, Machbarkeitsillusionen, mangelnde Evaluierungen, verpasste Chancen. Es war ein kollektives politisches Führungsversagen in vielen Hauptstädten, aus dem endlich gelernt werden muss.
Ellinor Zeino:
Nein, es gibt heute starke zivile Kräfte!
Afghanistan befindet sich noch immer in einer gesellschaftspolitischen Umbruchphase. Der Entwicklungsprozess ist nicht abgeschlossen, die Wunden des Bürgerkriegs nicht verheilt. Das Land ist heute jedoch ein anderes als noch vor zwanzig Jahren, als die Taliban es beherrschten. Die Errungenschaften liegen vor allem in der Meinungsfreiheit, einer offenen Debattenkultur und einem Medienpluralismus, der einzigartig in der Region ist und sich deutlich von den staatlich kontrollierten Medien in den Nachbarstaaten unterscheidet. Afghanistan hat eine breite, aktive Zivilgesellschaft. Frauen sind in Regierung und Parlament, in Gerichten und Sicherheitskräften vertreten, genießen Bildung.
Der Westen und die internationale Gemeinschaft mussten sich jedoch teils von früheren Zielen und Erwartungen verabschieden. Der internationale Afghanistan-Einsatz wurde zum Lernprozess für alle Beteiligten. Heute wird der Friedensprozess und die Aushandlung einer neuen Staats- und Gesellschaftsordnung als innerafghanische Angelegenheit bewertet. Die neue Ordnung muss, wenn sie einen nachhaltigen Frieden schaffen soll, ein inklusiver Kompromiss sein, in dem sich alle Seiten wiederfinden. Eine stabile Ordnung muss die lokalen Realitäten widerspiegeln und die Diversität der Lebenswelten auf Basis einer friedlichen Koexistenz schützen.
Afghanistan steht heute an einem Wendepunkt. In welche Richtung sich das Land und der Friedensprozess entwickeln, ist unklar. Seit zwanzig Jahren war Afghanistan noch nie so nah an einer politischen Verhandlungslösung zwischen Verfechtern einer afghanischen Republik und der radikal-islamischen Taliban-Bewegung. Eine Erfolgsgarantie gibt es nicht. Es wäre aber ein Fehler, das Land als gescheitert aufzugeben.
Sind wir in Afghanistan gescheitert?
Winfried Nachtwei, geboren 1946, war bis 2009 für Bündnis90/Die Grünen im Bundestag und hat sich seit 2001 intensiv mit Afghanistan beschäftigt. Er hat das Land zwanzig Mal besucht.
Ellinor Zeino, geboren 1980, ist Landesdirektorin der Konrad-Adenauer-Stiftung für Afghanistan. Seit Herbst 2018 leitet sie das Büro der Stiftung in Kabul.
Sind wir in Afghanistan gescheitert?
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das bedeutet natürlich nicht, dass man afghanistan "aufgeben" soll - aber hierzulande sollte man sich klar darüber werden, dass wir zu dieser katastrophe (für die afghanischen menschen!) beigetragen haben. deshalb muss man daraus auch lernen, wie w. nachtwei schreibt. aber die bundesregierung verweigert eine unabhängige, öffentliche gesamtevaluierung des einsatzes.
thomas ruttig, ko-direktor afghanistan analysts network (kabul/berlin)