Pro und Contra
Flüchtlingsdeal mit Erdogan beenden?
Sevim Dagdelen: Ja, die EU macht sich erpressbar!
Die militärischen Angriffe der türkischen Armee an der Seite islamistischer Söldnergruppen im Nordosten Syriens sind ein eklatanter Bruch des Völkerrechts. Ziel der Militäroperation des Nato-Mitglieds Türkei ist die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung und die Einrichtung einer Besatzungszone mit der Ansiedlung von Millionen arabisch-syrischer Flüchtlinge aus der Türkei. Diese ethnische Säuberung ist ebenso völkerrechtswidrig.
Nach erster Kritik aus der EU an seinem Vorgehen hat der türkische Präsident Erdogan der EU unverhohlen gedroht: »Wenn ihr unsere Operation als Invasion darzustellen versucht, ist unsere Aufgabe einfach: Wir werden die Türen öffnen und 3,6 Millionen Menschen werden zu euch kommen.« Spätestens jetzt muss jedem klar sein, wie verheerend der EU-Türkei-Deal aus dem Jahr 2016 ist und welch enormes Erpressungspotenzial er hat. Tatsächlich reagiert die EU praktisch gar nicht auf die Gewaltpolitik Ankaras. Im Gegenteil: Der Despot Erdogan bekommt weiter Waffen und milliardenschwere Geldhilfen, während er in Syrien Hunderttausende in die Flucht treibt.
Für Erdogan ist der Flüchtlingsdeal eine Carte Blanche zur Fortsetzung seiner repressiven Innen- und aggressiven Außenpolitik. Den Millionen Kriegsflüchtlingen aus Syrien hilft das von Bundeskanzlerin Angela Merkel eingefädelte Abkommen keinen Deut weiter. Sie sind Spielball Ankaras und bleiben ohne jede Perspektive. Statt Milliardenschecks an einen Erpresser als Türsteher zur Flüchtlingsabwehr auszustellen, sollte das Geld in den Wiederaufbau in Syrien investiert werden, um den Menschen vor Ort eine Lebensperspektive zu schaffen. Dazu gehört die Aufhebung der unmenschlichen Sanktionen gegen Syrien, die den Wiederaufbau blockieren und immer weitere Menschen in die Flucht zwingen.
Gerald Knaus: Nein, es gäbe noch mehr Tote!
Was würde passieren, würde die EU heute beschließen, dass die EU-Türkei-Erklärung vom 18. März 2016 nicht mehr gilt? Die zugesagten sechs Milliarden Euro, mit der in der Türkei Sozialhilfe, Bildung und medizinische Versorgung von Millionen Flüchtlingen finanziert werden, würden auslaufen. Auch die Zusage, aufgrund derer bislang mehr als 25 000 syrische Flüchtlinge aus der Türkei legal in die EU kamen – ohne das Mittelmeer überqueren zu müssen! – würde entfallen.
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Die Türkei würde im Gegenzug die Kooperation mit Griechenland reduzieren. Es würden wieder mehr Menschen aus der Türkei auf die griechischen Inseln kommen. Wie viele, kann niemand vorhersagen. In den zwölf Monaten vor Abschluss des Abkommens waren es eine Million Menschen, in den zwölf Monaten danach 26 000, in diesem Jahr werden es um die 50 000 sein, ein Viertel davon Syrer. Dazu würde auch die Zahl der Menschen, die in der Ägäis ertrinken – die seit März 2016 stark zurückgegangen ist –, wieder steigen.
Hätte die EU dadurch mehr Einfluss auf Entwicklungen in dem Land, das seit Jahren weltweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat? 3,6 Millionen Syrer leben laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk in der Türkei, geschätzt 150 000 syrische Kinder kommen dort jedes Jahr auf die Welt. Abermals Hunderttausende Syrer könnten schon in naher Zukunft vor Angriffen der syrischen Armee und russischen Luftwaffe in die Türkei fliehen.
Was sollte stattdessen passieren? Die EU sollte die finanzielle Unterstützung für Syrer in der Türkei fortsetzen. Sie müsste endlich schnelle Asylverfahren und menschenwürdige Zustände auf den griechischen Inseln garantieren. Und die EU sollte mehr, nicht weniger, schutzbedürftige Menschen aus der Türkei aufnehmen.
Gerald Knaus, geboren 1971, ist Vorsitzender der Denkfabrik »Europäische Stabilitätsinitiative«. Er gilt als Mit-Architekt des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei.
Gustav Haab 17.11.2019, 13:50 Uhr:
Es wäre an der Zeit, dass die EU eine gemeinsame Flüchtlingspolitik betreiben würde. Stattdessen nehmen die Einzelinteressen zu. Ist Osteuropa blind dafür, dass irgendwann die Flüchtlingsströme auch in diese Richtung sich bewegen werden? Da nützt auch der beste Zaun nichts mehr! (S. Berliner Mauer)!
Sylvio Engert 17.11.2019, 11:27 Uhr:
Die Politik Erdogans sollte mit keinem Cent unterstützt werden.
Hildegard Hiene 17.11.2019, 09:24 Uhr:
Es stimmt beides. Grundsätzlich kann man mit solchen Staatslenkern wie Erdogan keine Verträge schließen. Auf der anderen Seite kann man nicht mehr Tote in Kauf nehmen.... ein Dilemma! Und dann sind da noch die Kurden, die Erdogan aus ihrer Heimat vertreibt! Außerdem wird Erdogan immer machen, was er will und was ihm mehr Macht bringt.
Georg Lechner 07.11.2019, 20:04 Uhr:
Die Frage ist nicht leicht zu beantworten und die Satelliten der USA würden sich ohnehin um die Antwort nicht kümmern. Denn die Waffenlieferungen an die Türkei werden weitergehen, weil die USA die Türkei als Drohpotential gegen Russland braucht. Da müssen die Europäer spuren, auch wenn Macron heute der NATO den Hirntod bescheinigt hat.