Pro und Contra
Müssen wir bald mehr und länger arbeiten?
Gunther Schnabl:
Ja, das ist unumgänglich!
Ludwig Erhard führte 1948 eine Marktwirtschaft ein, die zur Grundlage für den Ausbau der sozialen Sicherung wurde. Das Rückgrat der Sozialen Marktwirtschaft war die harte Deutsche Mark, die die Unternehmen kontinuierlich zu Produktivitätserhöhungen zwang. Die Sozialausgaben liegen heute bei etwa 1200 Milliarden Euro. Die Euro-, Corona-, Klima- und Ukrainepolitik haben die marktwirtschaftliche Ordnung schrittweise unterhöhlt. Umfangreiche Rettungspakete wurden zunehmend mithilfe von Staatsanleihekäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) finanziert. Der Euro wurde zur Weichwährung, so dass die Produktivität schwindet. Das gesetzliche Rentensystem ist hoch defizitär. Die EZB schadet mit Nullzinsen und Inflation der privaten Alterssicherung. Mit der angestrebten Ökosozialen Marktwirtschaft dürfte sich dieser Prozess beschleunigen. Deshalb muss mehr gearbeitet werden, wenn der Wohlfahrtsstaat gesichert werden soll. Das kann durch kürzere Ausbildungszeiten, eine höhere Erwerbsbeteiligung von Menschen im Erwerbsalter sowie einen späteren Renteneintritt erreicht werden.
Aus der Sicht vieler Rentner würde Letzteres ihre Lebensleistung nicht ausreichend honorieren. Für einige sind längere Lebensarbeitszeiten auch nicht möglich. Andererseits können jedoch nicht alle Lasten der Rettungspolitiken auf die Jungen verschoben werden. Diese leiden bereits länger unter schwachen Realeinkommen und von der EZB aufgeblähten Immobilienpreisen. Alternativ entscheidet sich die Regierung zu einer Rückkehr zu marktwirtschaftlichen Prinzipien, einschließlich einer stabilen Währung. Das würde ein höheres Produktivitätsniveau und eine bessere Alterssicherung erlauben. Der Schlüssel dazu liegt bei Christine Lagarde in Frankfurt.
Dierk Hirschel:
Publik-Forum EDITION
»Das Ende des billigen Wohlstands«
Wege zu einer Wirtschaft, die nicht zerstört.»Hinter diesem Buch steckt mein Traum von einer Wirtschaft, die ohne Zerstörung auskommt. / mehr
Nein, Produktivität ist entscheidend!
Die Geschichte des modernen Kapitalismus zeugt von einer beeindruckenden Einwicklung seiner Produktivkräfte. Hierzulande hat sich die Produktionsmenge je Arbeitsstunde – die sogenannte Arbeitsproduktivität – seit 1870 mehr als verzwanzigfacht. Gewerkschaften, Sozialdemokratie und christliche Soziallehre stritten jahrzehntelang dafür, dass die Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums ihren gerechten Anteil bekamen. Dabei ging es immer um die Verteilung von Einkommen und Zeit. In den vergangenen 150 Jahren wuchs der Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung und ihre Arbeitszeiten schrumpften. Das Sozialprodukt pro Kopf verzehnfachte sich und die jährliche Arbeitszeit halbierte sich von durchschnittlich 2800 auf 1400 Stunden.
Wenn der einzelne Arbeitnehmer effizienter produziert, dann können zukünftig weniger Beschäftigte ein größeres Sozialprodukt erzeugen. Dafür müssten Unternehmen und Staat mehr investieren. Viele Börsenschwergewichte schütten aber lieber Dividenden aus, als ihre Gewinne in neue Produkte zu stecken. Gleichzeitig stauen sich in unseren Städten und Gemeinden die Investitionen – dank Schuldenbremse und steuerlicher Reichtumspflege. Kein Wunder, dass das Internet lahmt und der Strom nicht von Nord nach Süd kommt. Ein neuer Produktivitätsschub setzt aber auch eine humanere Arbeitswelt voraus: Tarifverträge, eine familienfreundliche Infrastruktur, eine lebenslange Qualifizierung und eine hohe Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben fördern die Produktivität und helfen gegen Fachkräftemangel. Kurzum: Wir brauchen jetzt mehr Investitionen, mehr gute Arbeit und eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und keine längeren Arbeitszeiten.
Gunther Schnabl ist Professor für Wirtschaftspolitik und Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Leipzig.
Dierk Hirschel ist Chefökonom der Gewerkschaft ver.di und Autor des Buches »Das Gift der Ungleichheit«.
Ludger Klein-Ridder 05.08.2022:
Mein erster Eindruck: Kann man so daneben liegen? Die Fragestellung ist rückschrittlich. Der Planet ist am Ende der Nachhaltigkeitsmöglichkeiten, doch das spielt hier leider keine Rolle. Unverantwortliches »Weiter so« gehört nicht in eine zukunftsorientierte Redaktion, auch wenn der notwendige Gewerkschaftsansatz zur Produktivität seit Langem missachtet wird und hier mit Frau Lagarde als Hoffnungsträgerin zum hoffnungslosen Absch(l)uss kommt. Vielleicht für die nächsten Ausgaben diskutieren: »Dürfen wir noch wachsen?«
Doris Rüb 05.08.2022:
Selbstverständlich kommt es auf die Produktivität an. Zum Beispiel gab es in den 1960er-Jahren noch keine Personal Computer, damals hieß es: »So was braucht eine kleine Firma oder gar eine Privatperson nicht.« Heute werden viele Arbeitsstunden nicht nur in Büros von »so was« ersetzt. Inzwischen können in immer weniger Arbeitsstunden immer mehr Dinge produziert und verwaltet werden. Da liegt es doch nahe, dass die Menschen immer weniger arbeiten müssen, um das Gleiche zu erreichen. Wenn die Maschinen beziehungsweise ihre Eigentümer für die Maschinen Steuern zahlen müssten, wäre sicher auch genug Geld für die notwendige Care-Arbeit da.
Lothar Hinsch 05.08.2022:
Wenn man Dierk Hirschel durch seine Zugehörigkeit zu Verdi gleich verorten kann, dann wäre es nett, die neoliberalen Netzwerke, in denen sich Gunther Schnabl befindet, auch zu kennzeichnen. Das gehört zur Fairness. Eigentlich müssen nur Besserverdienende und Beamte länger arbeiten, die werden im Schnitt zehn Jahre älter; das heißt: Gunther Schnabl bis 75, dann kann ein Malocher mit 65 Jahren in Rente; und wenn alle einzahlen, ginge das richtig gut, oder?
Anne-Maja Hergt 19.07.2022, 07:45 Uhr:
Ich halte längere Arbeitszeiten nicht für die Lösung aller Probleme, weil jetzt schon viele Menschen in Deutschland am Limit arbeiten. Wer es sich leisten kann, wird entsprechende Kürzungen in Kauf nehmen und früher in den Ruhestand gehen oder auf eine Teilzeitbeschäftigung umstellen. Leidtragende sind mal wieder diejenigen mit niedrigen Einkommen und dadurch später unzureichenden Rentenbezügen, sie arbeiten dann einfach weiter, bis sie tot umfallen, um es mal platt zu formulieren. Was mich erstaunt ist, dass niemand über diejenigen spricht, die hierzulande gerne arbeiten würden, aber an dem riesigen Bürokratiemonster scheitern; und auch nicht über diejenigen, die hier teuer ausgebildet werden, aber dann wegen schlechter Arbeitsbedingungen lieber z. B. nach England, Skandinavien oder in die Schweiz auswandern. Vielleicht sollte man eher an diesen Stellen ansetzen?
Doris Rüb 18.07.2022, 12:56 Uhr:
Selbstverständlich kommt es auf die Produktivität an. Z.B gab es in den 1960er Jahren noch keine Personalcomputer, damals hieß es "sowas braucht eine kleine Firma oder gar eine Privatperson nicht". Heute werden viele Arbeitstunden nicht nur in Büros von "sowas" ersetzt.
Inzwischen können in immer weniger Arbeitstunden immer mehr Dinge produziert und verwaltet werden.
Da liegt es doch nahe, dass die Menschen immer weniger arbeiten müssen um das Gleiche zu erreichen.
Wenn die Maschinen bzw. Ihre Eigentümer für die Maschinen Steuern zahlen müssten wäre sicher auch genug Geld für die notwendige Care-Arbeit da.
Rudolf Lettmann 17.07.2022, 15:56 Uhr:
Meiner Meinung nach wird bei den Statements nicht unterschieden, ob es sich um "Produktionsberufe" oder Sozialberufe handelt. Da gibt es doch in Bezug zur "Produktivität" entscheidende Unterschiede!
Georg Lechner 08.07.2022, 15:01 Uhr:
In den letzten drei Jahrzehnten (in Deutschland vielleicht noch länger als in Ö.) sind (von einzelnen Krisenjahren abgesehen) die Gewinne stärker gestiegen als das BIP und das BIP stärker als die Reallöhne. Wegen der hinterherhinkenden Kaufkraft wurden die Gewinne immer weniger reinvestiert, sondern gingen in spekulative Anlagen und in Steuerhinterziehungen ein (2016 aufgrund der Daten von "Panama Papers" EU-weit jährlich auf eine Billion Euro geschätzt). Die Geldanlagen in Immobilienprojekte und die Rüstungsausgaben sind die Inflationstreiber, nicht die wegen der Verwerfungen in den Finanzmärkten und der Austeritätspolitik erforderlich gewordenen Maßnahmen des New Green Deal der EU.
Die Dogmen des Neoliberalismus haben sich als unbrauchbar hinsichtlich zukunftsfähigkeit erwiesen, wie auch Paul Krugman in "Arguing against Zombies" darlegte.