Pro und Contra
Funktioniert unser Rentensystem noch?

Verena Bentele:
Ja, die Warnungen sind Panikmache
Drei von vier jungen Menschen zwischen 18 und 34 Jahren haben kein Vertrauen in die gesetzliche Rente. Warum? Weil ihnen seit Jahren deren Kollaps vorhergesagt wird. Deswegen müssten die Deutschen länger arbeiten, das Rentenniveau weiter sinken, heißt es. Kein Wunder, dass bei so viel Panikmache junge Menschen die gesetzliche Rente für nicht zukunftsfähig halten. Dabei ist es leicht, sie zukunftsfähig zu machen.
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Natürlich haben die Paketbotin oder der Frisör kein Vertrauen in ein System, das sie zwingt, bis 68 oder gar 70 zu arbeiten, ihnen aber trotzdem nur eine Altersversorgung unter dem Existenzminimum bietet, sollte das Rentenniveau tatsächlich weiter sinken. Schon jetzt müssen zukünftige Rentner länger, also bis 67, arbeiten und bekommen dadurch kürzer Rente. Ihre Lebenserwartung wird nicht genauso schnell steigen wie die Lebensarbeitszeit.
Deswegen muss diese Angstmacherei aufhören. Der Beitragssatz für die Rentenversicherung lag 1983 bei 18,5 Prozent. Heute liegt er bei 18,6 Prozent. Er ist also stabil. Der Einwand, dies sei nur durch steigende Zuschüsse aus dem Haushalt erreicht worden, ist falsch. 2003 lag der Anteil der Ausgaben für die gesetzliche Rentenversicherung am Bruttoinlandsprodukt bei fast elf Prozent. Aktuell liegt er mehr als ein Prozent darunter.
Was wir wirklich brauchen, ist ein stabiles Rentenniveau von mindestens fünfzig Prozent des durchschnittlichen Verdienstes. Geringverdiener müssen mit einem Mindestlohn von 13 Euro bezahlt werden, damit sie eine Rente über der Grundsicherung erhalten. Und wir brauchen mehr Beitragszahler: mehr Frauen, die arbeiten können, auch wenn die Kinder noch klein sind. Vor allem aber mehr Menschen, für die das Solidaritätsprinzip gilt: Politiker, Beamte und Selbstständige. Auch sie sollten in die gesetzliche Rente einzahlen.
Johannes Geyer:
Nein, Reformen sind notwendig
Wenn bei der Rente die doppelte Haltelinie ab 2026 nicht mehr gilt, wird der Beitragssatz auf über zwanzig Prozent steigen und das Rentenniveau unter 48 Prozent fallen. Ohne Reformen geht das nicht lange gut. Klar ist: Ein steigender Beitragssatz belastet Beschäftigte und Unternehmen und muss daher begrenzt werden. Und ein geringeres Rentenniveau verschärft die prekäre Einkommenssituation vieler Rentner und Rentnerinnen. Gleichzeitig wurde das Drei-Säulen-Modell aus gesetzlicher, privater und betrieblicher Altersvorsorge zwar von einer rot-grünen Koalition eingeführt, aber von keiner Bundesregierung vollendet. Das Leistungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung wurde gesenkt, ohne angemessenen Ersatz in der zweiten und dritten Säule zu schaffen.
So sind die private und betriebliche Vorsorge unzureichend verbreitet, und bei der Versicherung von Erwerbsminderung und der Hinterbliebenenversorgung bestehen Lücken. Weil viele der »Babyboomer« noch arbeiten und wegen der Rekorderwerbstätigkeit der vergangenen Jahre, konnten zuletzt wieder Leistungen in der Rentenversicherung ausgeweitet werden (beispielsweise mit der »Mütterrente« und »Rente mit 63«). Finanziert wurde dies vorrangig aus dem sprudelnden Beitragsaufkommen. Versäumt wurde aber eine Reform, die die Rente auf die kommenden Herausforderungen besser vorbereitet.
Die Beitragssätze werden nicht nur in der Rente steigen, sondern auch in der Pflege- und Krankenversicherung. Die Politik hat es verpasst, den erwartbaren Verteilungskonflikten vorzubauen. So kommt die Diskussion über die Rente mit 68 nicht überraschend. Es ist doch klar, dass entweder die Beitragsbasis gestärkt werden muss und/oder die Ausgaben reduziert werden müssen, damit das Rentensystem auch in Zukunft funktioniert.
Funktioniert unser Rentensystem noch?
Verena Bentele, geboren 1982,
ist Präsidentin des
Sozialverbandes VdK.
Johannes Geyer, geboren 1978, ist stellvertretender Leiter der Abteilung Staat am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin.
Funktioniert das Rentensystem noch?
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Warum wurde eine Beitragsbemessungsgrenze eingeführt? Die "Gutverdiener" sollen denselben prozentualen Beitragsatz bezahlen wie die z.B. auf Mindestlohnbasis Arbeitenden.
Gleichzeitig erfährt man, dass selbst während der Corona-Zeit der Reichtum bestimmter Schichten in Deutschland anwuchs!