Pro und Contra
Soll Israels Sicherheit deutsche Staatsräson sein?

Marie von den Benken: Ja!
Als Angela Merkel 2008 in Jerusalem vor der Knesset erklärte, die Sicherheit Israels sei Teil der deutschen Staatsräson, war ich 18 Jahre alt und bezog gerade meine erste eigene Wohnung in Hamburg. Mit einigen Historikern in der Familie und als Geschichts-LK-Absolventin hatte ich eine recht genaue Vorstellung, welche Schuld Deutschland sich mit dem Holocaust aufgeladen hatte und welche Verantwortung daraus erwuchs. Ich habe Merkel nie gewählt, an jenem Tag jedoch sprach sie auch für mich. Es war mir immer ein Rätsel, wie der einzige jüdische Staat für irgendwen eine Gefahr darstellen könnte. Ein Land, das 2008 rund 7,2 Millionen Einwohner hatte, weniger als New York, und so winzig, dass es auf Landkarten mit bloßem Auge kaum erkennbar war.
Gleichsam wusste ich, dass das nicht jeder so sah, nicht mal in Deutschland. Wenn ich die knapp 600 Meter von meiner Wohnung zum Abaton Kino spazierte, wurde die schwer zu begreifende Diskrepanz zwischen Merkels Worten und der jüdischen Realität regelmäßig offensichtlich. Ein paar Hausnummern davor patrouillieren rund um die Uhr Polizisten vor der Talmud-Tora-Schule. Ich spürte das beklemmende und unmenschliche Gefühl, man wäre jederzeit in Gefahr, nur weil man jüdisch ist.
Mehr als 15 Jahre nach Merkels Rede, konkret seit dem 7. Oktober 2023, interessieren sich plötzlich auch pseudopazifistische Linke für Staatsräson. Also seit dem Tag, als Israel vom schlimmsten Angriff auf jüdisches Leben seit der Shoah erschüttert wurde und seither gegen eine Terrororganisation kämpfen muss, die Zivilisten als Schutzschilder missbraucht und Israel so in einen Krieg zwingt, den es PR-seitig nicht gewinnen kann. Ausgerechnet jetzt soll diese Staatsräson sogar am besten abgeschafft werden. Selbst Neukanzler Friedrich Merz gerät in den Strudel aus Faktenresistenz und Terrorpropaganda und kapituliert vor einer kleinen, aber sehr lauten Bubble passionierter Antisemiten, die versuchen, Judenhass per deplatzierten Buzzwords wie Apartheid, Hungersnot oder Völkermord zu »Israelkritik« umzuwidmen. Merz sagt, er verstehe nicht mehr, »mit welchem Ziel« Israel in Gaza vorgehe.
Das klingt ganz anders als die Rede von Merkel und wird von Einlassungen des neuen Außenministers Johann Wadephul flankiert. Der sprach zuletzt von »Zwangssolidarität« und »Instrumentalisierung von Antisemitismus«. Das ist bedrohlich nahe an rechtsextremistischem Vokabular wie »Schuldkult« und auch nicht mehr weit bis zu Björn Höckes »Denkmal der Schande«. Staatsräson sieht anders aus und sollte nicht vergessen werden. Vor allem nicht von deutschen Spitzenpolitikern.
Meron Mendel: Nein!
Seit 2008 gilt der Satz, die Sicherheit Israels sei Teil der deutschen Staatsräson, als fester Bestandteil deutscher Außenpolitik. Als Angela Merkel ihn vor dem israelischen Parlament sprach, war er Ausdruck historischer Verantwortung und demokratischer Verbundenheit. Heute aber verkommt die Formel zur Floskel. Das ist gefährlich, weil sie die politischen Entwicklungen in Israel ausblendet und jede differenzierte Debatte erschwert.
Als Merkel diese Formel prägte, war Ehud Olmert Ministerpräsident. Israel war von seinen Feinden existenziell bedroht, aber es gab ernsthafte Friedensverhandlungen mit den Palästinensern. Der Begriff der Staatsräson ist nur in diesem Kontext zu verstehen. Dieser Kontext aber hat sich grundlegend verändert. Die aktuelle Regierung unter Benjamin Netanyahu ist dabei, Israel in ein Land wie Ungarn zu verwandeln. Sie schränkt die Unabhängigkeit der Justiz und der Presse ein, behindert die Arbeit von NGOs. Seit eineinhalb Jahren führt sie einen entgrenzten Krieg mit Zehntausenden zivilen Opfern in Gaza. Diese Regierung steht nicht mehr für jene Werte, die lange die Grundlage der deutsch-israelischen Freundschaft bildeten.
Trotzdem war bislang der Verweis auf die »Staatsräson« ein zentraler Bestandteil deutscher Regierungserklärungen – oft ohne jede Kritik an der israelischen Regierung. Im aktuellen Koalitionsvertrag kommt er zweimal vor; eine Verurteilung des Siedlungsbaus fehlt. Dies alles widerspricht dem moralischen Anspruch der Bundesrepublik, aus der Geschichte gelernt zu haben. Eine verantwortungsvolle Staatsräson muss sich daran messen lassen, ob sie aufseiten jener Kräfte steht, die für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden eintreten. Hunderttausende Israelis protestieren seit Monaten gegen die Regierung Netanjahu. Sie fordern einen Geiseldeal, das Ende des Krieges in Gaza, den Schutz der Demokratie. Diese Stimmen sollten im Zentrum deutscher Israel-Politik stehen, nicht die der Minister, die mit Rassismus und Gewaltfantasien Schlagzeilen machen.
Eine Neujustierung der deutschen Staatsräson ist notwendig. Es scheint, dass Bundeskanzler Friedrich Merz mit seiner Aussage, das Vorgehen der israelischen Armee lasse sich nicht mehr mit dem Kampf gegen den Terrorismus begründen, endlich einen ersten Schritt getan hat. Deutschland muss klar unterscheiden zwischen dem Staat Israel und seiner jeweiligen Regierung, zwischen Solidarität mit einem Volk und der Kritik an autoritären Tendenzen. Nur so kann das historische Erbe in eine Zukunft überführt werden, die von gegenseitigem Respekt, Menschenrechten und demokratischen Werten geprägt ist.
Marie von den Benken arbeitet als Autorin, Podcasterin und Influencerin. Sie engagiert sich gegen Antisemitismus.
Meron Mendel leitet die Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank. Seine Frau Saba-Nur Cheema und er erhielten 2025 die Buber-Rosenzweig-Medaille.

Georg Lechner 05.06.2025, 14:57 Uhr:
Die größte Gefahr für Israels Sicherheit ist die Regierung Netanjahu. Sie untergräbt mit ihrer Politik das Ansehen Israels in der Welt, beispilsweise durch die offene Missachtung der UNO.
Michael 03.06.2025, 19:57 Uhr:
Nach 20 Monaten an Videos und Bildern aus Gaza Apartheid, Hungersnot und Völkermord als Buzzwords zu bezeichnen, verkennt die brutale Realität auf eine schnippische Art und Weise.
Würde Frau Merkel heute auch noch Israel die Treue halten?
Israels "Kriegsführung" macht Juden weltweit zur Zielscheibe. Das ist nun mal die bittere Realität. Ein weiterer Grund für Deutschland sich auch mit Taten statt nur leerer Worte für einen permanenten Waffenstillstand stark zu machen.