Pro und Contra
Sind die Grünen zu zahm geworden?

Annemarie Botzki:
Ja, sie sind viel zu ängstlich!
Wohlfühl-Klimaschutz-Politik wird der existenziellen Bedrohung durch die Klimakatastrophe nicht gerecht. Die Grünen setzen mehrheitlich auf ökologische Modernisierung und grünes Wachstum anstatt auf eine sozial-ökologische Transformation. Das reicht nicht aus, um die Bedrohung für Menschen, Tiere und Natur in den Griff zu bekommen.
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Die Grünen richten ihre Inhalte so aus, dass sie wenig stören und für wenig Konfliktpotenzial sorgen. Oft entsprechen ihre Forderungen nicht mal dem 1,5-Grad-Ziel von Paris. Beim Schutz des Klimas und der Ökosysteme geht es nicht darum, ob Entschlüsse im aktuellen politischen System mehrheitsfähig sind, sondern um Ergebnisse.
Technologische und gesellschaftliche Lösungen müssen zusammengedacht werden. Zahlreiche Lösungen liegen auf dem Tisch. Das Null-Emissionen-Ziel hat höchste Priorität. Der Klimawandel ist das Symptom eines toxischen Systems, das Wälder verbrennt, Ozeane versauert, Tierarten vernichtet, die Luft verschmutzt, ganze Ökosysteme kippt und Menschen zu Millionen zur Flucht treibt.
Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem Ziel, ins Kanzleramt zu kommen, und dem, was wirklich notwendig ist, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Keine Partei spricht unter Wiederwahlzwang Klartext.
Was also hilft? Bürgerversammlungen eröffnen die Möglichkeit, die Gesellschaft an den großen Fragen über die drohende Klimakatastrophe zu beteiligen und auf neue Art zu demokratischen Lösungen zu kommen. Irland hat mit einer solchen Bürgerversammlung bewiesen, dass informierte Menschen vorausschauende Entscheidungen zum Wohl der Gemeinschaft treffen. Trauen sich die Grünen und setzen darauf?
Sven Giegold
Nein, sie bewegen die Politik!
Der richtige Maßstab für politisches Engagement ist nicht der Grad an Zahmheit. Aufmüpfigkeit ist kein Wert an sich. Es geht darum, Politik in Richtung Gerechtigkeit und Ökologie zu verändern. Und wir Grünen sind heute politisch wirksamer denn je. Noch nie hatten wir so viel Einfluss wie heute.
Wie wirkmächtig die Grünen sind, sieht man an der Klima- und Umweltpolitik der neuen EU-Kommission. Die bisher nicht als Klimapolitikerin aufgefallene CDU-Frau Ursula von der Leyen hat das anspruchsvollste Umweltprogramm vorgestellt, das die EU je hatte. Zuvor hatten die Grünen in vielen EU-Ländern bei der Europawahl Spitzenergebnisse. Die Proteste von Fridays for Future haben Druck erzeugt, und das politische Angebot der Grünen hat Bürgern und Bürgerinnen eine Wahlalternative geboten, die andere Parteien zwingt, sich ebenso in Richtung Ökologie und Gerechtigkeit zu verändern. Nur die Kombination aus gesellschaftlichem Druck und politischen Alternativen kann Politik erfolgreich verändern.
Gerade wenn die Mehrheit in Europa konsequenten Klimaschutz verlangt, wäre es ein unverzeihlicher politischer Fehler, wenn wir Grünen uns mit Radikalisierung oder symbolischem Ungehorsam isolierten. Manche Aktivistinnen wünschen sich von uns Grünen einen noch härteren Klimaschutzkurs. Das ist verständlich. Aber: Gerade wenn der Planet brennt wie noch nie, dürfen wir Grünen uns keinen politischen Kardinalfehler erlauben. Die Aufgabe von uns Grünen ist, die Politik in Richtung des maximal Möglichen zu treiben. Dazu müssen wir wählbar werden für Menschen, die uns bisher aus sozialen und ökonomischen Gründen nicht gewählt haben. Genau das ist uns in den vergangenen zwei Jahren in Deutschland gelungen. Dadurch sind wir heute wirksamer denn je.
Sind die Grünen zu zahm geworden?
Annemarie Botzki, geboren 1987, ist
im Presseteam von
Extinction Rebellion Deutschland.
Sven Giegold, geboren 1969, ist seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments für Bündnis90/Die Grünen und aktuell Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament.
Sind die Grünen zu zahm geworden?
Uns interessiert Ihre Meinung in der aktuellen Umfrage auf www.publik-forum.de/umfrage
"Keine Partei spricht unter Wiederwahlzwang Klartext."
Auch einer grünen Partei geht es zuallererst um Wähler*innen-Stimmen.
Von der viel beschworenen "Basis-Demokratie" aus den Gründungsjahren ist
auch in der Grünen Partei nicht mehr viel zu hören.
Frau Botzki erinnert daran:
"Bürgerversammlungen eröffnen die Möglichkeit, die Gesellschaft an den großen Fragen über die drohende Klimakatastrophe zu beteiligen und auf neue Art zu demokratischen Lösungen zu kommen."
Gedanken über die Abschaffung von Parteien machte sich schon Simone Weil: https://antjeschrupp.com/2011/08/17/simone-weils-pladoyer-fur-die-abschaffung-der-politischen-parteien/
Frau Botzki hat objektiv recht, dass für das Klima mehr getan werden muss.