Pro und Contra
Sitzenbleiben permanent abschaffen?

Andreas Schleicher:
Ja, das ist teuer und bringt nichts!
Sitzenbleiben bringt nichts. Kinder, die eine Klasse wiederholen, bekommen eher zusätzliche Schwierigkeiten. Sie werden aus ihrem sozialen Zusammenhang gerissen und müssen sich auf neue Lehrer und Mitschüler einstellen. In der Klasse fallen sie noch mehr auf, weil sie älter sind. Vor allem aber werden ihre Lernschwierigkeiten nicht gelöst, es bleibt ja alles beim Alten: Die Schüler wiederholen einfach den Stoff, den sie schon kennen, und machen die gleichen Fehler noch einmal.
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Außerdem macht man es den Lehrern damit zu einfach. Kommt ein Schüler nicht mit, müssen sie keinen besonderen Einsatz zeigen. Sie können einfach warten, bis sich ein anderer Lehrer im nächsten Schuljahr um ihn kümmert.
Aus all diesen Gründen ist das Sitzenbleiben in vielen Ländern schon lange abgeschafft worden. Dort überlegen die Kinder und Lehrer stattdessen gemeinsam, in welchen Fächern es hapert. Es gibt Extra-Unterricht, oft auch individuelle Unterstützung. In Finnland leisten Lehrkräfte bis zu 30 Prozent ihrer Stundendeputate außerhalb des Klassenverbandes ab. Das bedeutet dann zwar, dass Schüler nachmittags länger in der Schule bleiben müssen, aber das ist sicher besser, als sich im nächsten Jahr viele Stunden lang zu langweilen. Zudem kommt Sitzenbleiben den Steuerzahler teuer zu stehen. Die Schüler werden ja ein Jahr später mit der Schule fertig. Also arbeiten sie erst ein Jahr später und zahlen ein Jahr weniger Steuern. Pro Klassenwiederholer kommen damit mehr als 30 000 Euro zusammen. Schafft man das Sitzenbleiben ab, könnte man das gesparte Geld verwenden, um den Unterricht besser zu machen: mit Einzelstunden, Nachhilfe und spannenderen Materialien.
Roland Struwe:
Nein, die Motivation würde leiden!
Werden alle Schüler automatisch in die nächste Klasse versetzt – ganz egal, welche Noten sie haben –, konterkariert und entwertet das die tägliche Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer. Und es schadet den Schülerinnen und Schülern!
Die Notengebung ist ein wichtiges Instrument zur Motivation. Gerade diejenigen Schülerinnen und Schüler, die ohnehin schwer zu motivieren sind, würden damit einen Freifahrtschein erhalten, der es ihnen erlaubt, die Arbeit gänzlich einzustellen. Ob die Schüler sich am Unterricht beteiligen, ob sie ihre Aufgaben erledigen oder nicht, würde dann keine Rolle mehr spielen. Sie könnten sich entspannt zurücklehnen, keiner müsste mehr für eine Überprüfung lernen, Hausaufgaben müssten nicht mehr gemacht werden.
Dies hätte langfristig negative Folgen. Schülerinnen und Schüler würden den Anschluss verlieren. Durch automatische Versetzung würden ihre Leistungen ja nicht besser. Gerade in Fächern, in denen die Inhalte aufeinander aufbauen, entstehen dann Lücken, die nicht mehr so leicht zu füllen sind. Das gilt beispielsweise für das Schulfach Mathematik. Da gibt es keinen Lernstoff, den man einfach weglassen oder überspringen kann.
Unterricht ist ja auch mehr als Beschäftigungstherapie. Und die Schule ist mehr als eine Betreuungseinrichtung. Daher muss Leistung auch etwas zählen. Eine automatische Versetzung wäre das absolut falsche Signal für Schülerinnen und Schüler.
Sitzenbleiben permanent abschaffen?
Andreas Schleicher leitet bei der OECD das Direktorat für Bildung und ist der internationale Koordinator der PISA-Studien.
Roland Struwe ist Fachlehrer für Politik & Wirtschaft und Geschichte an der Eichendorffschule in Kelkheim, Hessen.
Sitzenbleiben permanent abschaffen?
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Ich würde mir Pädagogen wünschen, die ihren Beruf wirklich als Berufung sehen, Kinder zu unterstützen, Lust am Lernen zu fördern mit Erfolgserlebnissen und sie dort abzuholen, wo sie stehen - nämlich auch unter Berücksichtigung ihrer familiären Situation. Pädagoge zu sein anstatt nur LehrerInnen erfordert eigene Reife und Entwicklung. Sitzen bleiben ist die lächerlichste Lösung, Defizite auszugleichen. Ein pädagogisches Armutszeugnis!
Bilden wir LehrerInnen aus, die mitmenschliche, empathiefähige Menschen sind und interessiert an ihren SchülerInnen.
G. Habekost