Pro und Contra
Sind zwölf Euro Mindestlohn angemessen?
Gerhard Trabert
Ja, aber das ist noch
nicht genug!
Keine Frage, die geplante Erhöhung des Mindestlohns ist ein Schritt in die richtige Richtung – sie reicht allerdings nicht und zeigt Schwachstellen und weiteren Handlungsbedarf. Ein Mindestlohn sollte nur dann auch den Namen Mindestlohn tragen, wenn er tatsächlich die Existenz sichert und ein Leben, wenn auch nur knapp, über dem Existenzminimum garantiert. Dies tut der Mindestlohn aktuell nicht. Er wird es auch nicht nach der Erhöhung auf zwölf Euro tun.
Auf parlamentarische Anfragen der Linken-Fraktion im Bundestag errechnete das Bundesarbeitsministerium: Ein Mindestlohn muss bei mindestens 12,63 Euro liegen, um bei 38 Stunden pro Woche und 45 Beitragsjahren eine Rente oberhalb der Grundsicherung zu erhalten. Dabei gibt es immer mehr atypische Beschäftigungen, ein beruflicher Werdegang mit 45 Beitragsjahren in Vollzeit ist nicht mehr selbstverständlich. Niemand soll arm sein, schon gar nicht in einem reichen Land wie Deutschland. Dies gilt besonders für Menschen, die jeden Tag ihre Lohnarbeit verrichten. Generell stellt der Niedriglohnsektor in vielen Bereichen keine respektvolle und leistungsorientierte Entlohnung geleisteter Arbeit mehr dar. Armut trotz Arbeit ist besonders skandalös.
Parallel muss die ungleiche Entlohnung von Erwerbsarbeit von Frauen, deren Lohn für dieselbe Arbeit etwa 18 Prozent unter der eines männlichen Kollegen liegt, beseitigt werden. Zudem müssen die sozialen Transferleistungen, das Arbeitslosengeld 2 (Hartz IV) beziehungsweise das Sozialgeld auf ungefähr 650 Euro erhöht werden. Perspektivisch muss eine sogenannte Grundsicherung eingeführt werden, die diese Leistungen ersetzt und eine deutlich höhere finanzielle Existenzgrundlage beinhaltet.
Christoph Schröder
Publik-Forum EDITION
»Das Ende des billigen Wohlstands«
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Nein, das ist zu viel und geht zu schnell!
Der gesetzliche Mindestlohn wurde 2015 mit dem Ziel eingeführt, die Tarifautonomie zu stärken. Dies begründet, warum eine Kommission aus Gewerkschafts- und Arbeitgebervertretern Vorschläge zur Anpassung des Mindestlohns macht. Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf soll der letzte Beschluss der Kommission überschrieben und der Mindestlohn im Oktober 2022 sprunghaft um 15 Prozent auf zwölf Euro steigen. Die Auswirkungen auf das bestehende Tarifsystem wären erheblich. Anfang 2022 hatten noch 164 Tarifverträge mindestens eine Entgeltgruppe unter zwölf Euro.
Die wirtschaftlichen Effekte sind noch unklar, deuten sich aber an: Mit der Mindestlohneinführung kam es zu einer Stauchung der Lohnstruktur, zu Preiserhöhungen, reduzierter Arbeitszeit und zu einem Wechsel der betroffenen Beschäftigten zu produktiveren Firmen – verbunden mit erhöhten Pendlerzeiten. Ökonomen sind sich einig, dass ab einer bestimmten Mindestlohnhöhe die Beschäftigung sinkt. Unklar ist, wo genau dieser Kipppunkt liegt. Dies mahnt dazu, Mindestlohnerhöhungen zeitlich so zu strecken, dass sie wieder rasch korrigiert werden können. Großbritannien veranschlagt acht Jahre für einen ähnlich großen Erhöhungsschritt. Zudem gibt es dort eine Notbremse. Ein hohes Mindestlohnniveau ist für den Staat überdies nicht umsonst. Frankreich bezuschusst die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber für einen Vollzeit-Mindestlohnempfänger mit 500 Euro je Monat. Daher sollte die Mindestlohnkommission weiterhin über die Höhe des Mindestlohns entscheiden. Sie hat bewiesen, dass sie Spielräume nutzt. Mit der Erhöhung auf 10,45 Euro im Juli 2022 geht sie um mehr als sechs Prozent über den Betrag hinaus, der sich ergeben hätte, wenn sie streng der Entwicklung der Tariflöhne gefolgt wäre.
Gerhard Trabert ist Professor für Sozialmedizin in Mainz und behandelt als Arzt arme Menschen. Die Linkspartei nominierte den Parteilosen für die Wahl zum Bundespräsidenten.
Christoph Schröder ist Senior Researcher für Einkommenspolitik, Arbeitszeiten und -kosten am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.
Sibylle Brosius 21.02.2022, 13:40 Uhr:
Ich möchte vor allem mehr Diskussion anstoßen. Es geht nämlich um weit mehr als diese Frage. Löhne unterhalb des gesellschaftlich notwendigen Mindestverdienstes werden nämlich – was der Herr Schröder geflissentlich verschweigt - auf die eine oder andere Art von der Allgemeinheit, also aus Steuermitteln oder von den Sozialversicherungen bezahlt. Ich verweise als Beispiel auf Aufstockerzahlungen für Niedriglöhner und Zahlungen an Bezieher*innen zu niedriger Renten und Pflegezahlungen.
Zentral ist dabei eine Definition des gesellschaftlich notwendigen Mindestverdienstes, für den beispielsweise Herr Trabert eine fundierte Definition gegeben hat.
Ansonsten finanziert die Allgemeinheit nur private Gewinne. In dem Beitrag von Herrn Schröder ist lediglich klar, dass der Autor hier gegen eine Erhöhung des Mindestlohnes ist. Seine Begründungen sind nur Postulate, etwas widersprüchlich und ohne Belege. Sein Vorschlag betrifft nur das Verfahren. Wissenschaftlich ist das nicht.
Thomas Velte 17.02.2022, 15:25 Uhr:
Im Zusammenhang mit der Anhebung des Mindestlohnes wäre ich für eine gerechte Verhandlungsweise. Bei dem 12€ Mindestlohn wissen wir genau, was er*sie in der Lohntüte vorfinden. Ich wäre dafür, dass die "Contra-Seite" ebenfalls ihr Einkommen offenlegt, damit eine annähernd faire und transparente Findung stattfinden kann. Transparenz schafft Vertrauen!
Nach der Finanzkrise 2008 war sogar Dr. Schäuble für eine Einführung der Transaktionssteuer. Wolfgang Kessler hat auf YouTube mit seinem Vortrag "Arbeiten und Leben nach Corona" verdeutlicht, dass eine Transaktionssteuern zwingend ist, um den Armen ein Grundeinkommen zu gewähren und dann gleichzeitig auch die Altersarmut abzufedern. - Ich kann nicht nachvollziehen, warum Ökononmen dem nicht folgen und so zu einer Stabilisierung der freien und demokratischen Gesellschaft nachhaltig beitragen.
Beste Grüße
Thomas Velte
Henning Kaufmann 13.02.2022, 16:50 Uhr:
Eine allgemeine Grundsicherung - ja das wär's. Hartz-IV, Wohngeld, Kindergeld usw. an einer Stelle zusammenführen. Die frei werdende Arbeitszeit von mehrfachen Kontrollen, diskriminierenden Sanktionen usw. umleiten zur Erhöhung des Mindestlohns. Der dann seinerseits auf dem Umweg über die Mehrwertsteuer die Staatskassen füllt. Die Angst der Unternehmer vor "den Märkten" ist bekannt und menschen-verachtend. Die Angst der Politik vor den Unternehmern auch.
Henning Kaufmann
Georg Lechner 12.02.2022, 17:12 Uhr:
In den letzten (zumindest drei) Jahrzehnten ist das BIP stärker gestiegen als das Medianeinkommen (und alles darunter noch krasser), die Gewinne sind aber stärker gestiegen als das BIP. Es braucht daher dringend einen Ausgleich.
Ingrid Boss 12.02.2022, 01:22 Uhr:
So ist das, wenn der Vertreter der Wirtschaft Herr C.Schröder mit Prof. Traber diskutiert.
Herrn Schröder könnte Perspektivwechsel einüben, da braucht er noch viel Unterstützung.
Prof Traber gelingt der Perspektivwechsel.
Wenn Herr Schröder am Tag soviel verdient wie ein Geringverdiener im Monat, dann sind das
völlig verschiedene Welten.
Nur: wer bestimmt was und wer setzt sich durch? Und wie wählen wir?
Mit freundlichen Grüßen
Ingrid Boss
Tobias Baiter 11.02.2022, 14:33 Uhr:
Wem 12 € Mindestlohn zu viel ist, sollte seine Konten für 3 Monate einfrieren und für 9,83 € 40 Stunden arbeiten und davon leben. Wenn er diesen Zustand nach drei Monaten für menschenwürdig erachtet, dann würde es mich wundern.