Pro und Contra
Ist die elektronische Zeiterfassung gut für die Angestellten?

Johanna Wenckebach:
Die Arbeitszeiterfassung sichert Beschäftigtenrechte. Nach dem europäischen Recht und dessen verbindlicher Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof und das Bundesarbeitsgericht geht es bei der Pflicht von Arbeitgebern zur Erfassung der Arbeitszeit vor allem um eins: den Schutz der Gesundheit ihrer Beschäftigten, ein hohes Gut also. Überlange Arbeitszeiten machen nachweislich krank, bei Überstunden steigt das Unfallrisiko. Immer mehr Menschen leiden unter psychischen und physischen Erkrankungen, die Folge von Überlastung sind. Digitalisierung führt zu Erreichbarkeit rund um die Uhr. Die Gefahr, dass Zeit, ungestörte Zeit für Gesundheit und Familie, verloren geht, steigt also. Die Zeiterfassung dient hier der Prävention. Verantwortliche Arbeitgeber kommen ihrer Verpflichtung deshalb schon lange nach. Längst sind niedrigschwellige und kostengünstige digitale Zeiterfassungssysteme auf dem Markt, mit denen es ein Leichtes ist, die rechtlichen Vorgaben zu erfüllen – auch bei flexibler und mobiler Arbeit.
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Mit dem häufig bemühten Bild der Stechuhr wollen Gegner der Zeiterfassung ein Framing schaffen, nachdem die Vorgabe starr und altbacken sei. Aber dass flexible Arbeitszeiten oder etwa mobile Arbeit durch Zeiterfassung unmöglich würden, ist ein Mythos. Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum Beispiel funktioniert nicht besser durch die Entgrenzung von Arbeit. Arbeitszeiterfassung ist hier nicht das Problem. Um hier Fortschritte zu machen, bräuchte es etwa mehr Möglichkeiten, die Lage der Arbeitszeit zu wählen oder weniger Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten.
Aber es geht eben auch um Geld: Wenn Beschäftigte um die Bezahlung ihrer Arbeitszeit streiten müssen, trifft sie die Beweislast. Ein »objektives, verlässliches und zugängliches System«, wie das europäische Recht es verlangt, hilft hier sehr, die Bezahlung von Überstunden durchzusetzen. Und auch um sicherzustellen, dass der gesetzliche Mindestlohn tatsächlich gezahlt wird.
Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung besteht nach der eindeutigen Rechtsprechung der höchsten Gerichte unabhängig von einem Tätigwerden des deutschen Gesetzgebers bereits jetzt. Um für Klarheit und Rechtssicherheit zu sorgen, macht eine explizite Regelung, die das Bundesarbeitsministerium nun schaffen will, aber Sinn. Wichtig ist jedoch, dass diese neuen gesetzlichen Regeln keine Verschlimmbesserung für Beschäftigtenrechte mit sich bringen und neue Ausnahmen beim Arbeitsschutz schaffen. Arbeitgeberverbände fordern genau das. Das Gesetzgebungsverfahren zur Arbeitszeiterfassung wird also wichtig und spannend.
Alan Posener
Das Gesetz zur elektronischen Arbeitszeiterfassung gibt sich arbeitnehmerfreundlich. Vielleicht ist es so gemeint. Der Europäische Gerichtshof entschied ja 2019, dass die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit aus der Grundrechte-Charta der Europäischen Union folge. Zwar sollte Mehrarbeit festgehalten und nach Möglichkeit bezahlt oder ausgeglichen werden. Ich sage aber »nach Möglichkeit«, weil es für jede Regel eine Ausnahme gibt. In manchen Kleinbetrieben herrscht – wie bei vielen Selbstständigen, zu denen ich als freier Autor gehöre – eine Art freiwillige Selbstausbeutung.
So wie ich kleineren Medien meine Artikel für Preise überlasse, die im Vergleich zum Zeitaufwand lächerlich sind, so leisten manche kleine Belegschaften unter dem Existenzdruck durch Großbetriebe oder die asiatische Konkurrenz unbezahlte Mehrarbeit, um Kunden – und damit den eigenen Arbeitsplatz – zu erhalten. Zwingt man sie, jede Überstunde abzurechnen, könnte das manchen Betrieb in den Ruin treiben. Europäische Arbeitsplätze im Namen europäischer Grundrechte vernichten? China lacht.
Dabei ist die unbezahlte Mehrarbeit in Deutschland kein großes Problem. In den Betrieben, die jetzt schon die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten genau erfassen, hat jeder Beschäftigte 2022 im Schnitt 14 bezahlte und 17 unbezahlte, aber ausgeglichene Überstunden geleistet. Nicht wenig, aber auch nicht übermäßig viel. Neben Betriebsräten und gewerkschaftlichen Vertrauensleuten haben Arbeitnehmer auch informelle Instrumente in der Hand, um der Ausbeutung entgegenzuwirken: Kaffee-, Essens-, Pinkel- und Rauchpausen etwa.
Idealerweise besteht auch ein Vertrauensverhältnis zu den Vorgesetzten, sodass man verabreden kann, an welchen Tagen man mit dem Kind zur Ärztin muss und deshalb später kommt, dafür aber die Arbeit des kranken Kollegen übernimmt – oder was auch immer. Warum will man dieses menschliche System durch die unmenschliche elektronische Überwachung ersetzen?
Zudem müssen teure Überwachungssysteme angeschafft, die Belegschaft in deren Gebrauch geschult werden. Alle müssen ein Smartphone mit der entsprechenden App haben. Privatsphäre? Nicht auf der Arbeit. Wenn erst die ganze Chose durch KI gesteuert wird, dürfte es vorbei sein mit individuellen Verabredungen über die Arbeitszeit und mit ausgedehnteren Kaffeepausen. Gnadenlos wird jede nicht tariflich abgesicherte unproduktive Sekunde festgehalten. Klar ist die Erfassung von Überstunden in der Regel gut. Aber wenn man dafür mit der totalen Kontrolle des Arbeitstages bezahlt? China lässt grüßen.
Johanna Wenckebach ist Direktorin des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeits- und Sozialrecht (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung und ehrenamtliche Richterin am Bundesarbeitsgericht.
Alan Posener ist Korrespondent für Politik und Gesellschaft bei der Welt-Gruppe. Der deutsch-britische Journalist und Autor hat zahlreiche Bücherverfasst.