Pro und Contra
Die Ukraine weiter aufrüsten?

Ruprecht Polenz:
JA!Frieden schaffen – ohne Waffen? Der russische Überfall auf die Ukraine zeigt, dass das leider nicht geht, wenn ein friedliches Land einem Aggressor gegenübersteht, der ihm sein Existenzrecht als Staat abspricht. Wladimir Putin will das ukrainische Volk auslöschen und führt einen gnadenlosen Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Es gebe gar kein ukrainisches Volk, behauptet er. Die Ukraine gehöre zu Russland. Das Land gehöre »denazifiziert«. Wie das aussieht, kann man in den »Filtrationslagern«, im zerstörten Mariupol und in Butscha sehen.
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Vor diesem Hintergrund ist die Frage zu beantworten, ob die Ukraine weiterhin mit Waffen beliefert werden soll. Ohne diese Hilfe zur Selbstverteidigung wäre der Krieg wahrscheinlich schon nach wenigen Wochen mit der Unterwerfung der Ukraine beendet gewesen. Ein Frieden wäre das nicht. Wie in den von Russland besetzten Gebieten würden dann in der gesamten Ukraine Menschen verschleppt, gefoltert und ermordet. Wie in Mariupol und Melitopol würden auch in Kiew und Lwiw Tausende Kinder von ihren Eltern getrennt, nach Russland deportiert und zur Adoption freigegeben. Damit sie russisch werden.
Weil bei einer Niederlage dieses Schicksal droht, kämpfen die Ukrainerinnen und Ukrainer mit dem Mut der Verzweiflung. Damit sie diesen Kampf fortsetzen können, ist es notwendig, die Ukraine weiterhin mit Waffen zu unterstützen. Nur so kann die Ukraine in eine Verhandlungsposition kommen, in der sie nicht einem russischen Diktat-»Frieden« ausgeliefert ist. Erst wenn Putin zu dem Ergebnis kommt, dass er seine Ziele militärisch nicht erreichen kann, wird er zu Verhandlungen bereit sein.
Putin schreckt vor atomaren Drohungen nicht zurück. Die Angst vor einer Eskalation bis hin zu einem dritten Weltkrieg soll die westlichen Länder davon abhalten, der Ukraine mit Waffen zu helfen. Dies verfängt vor allem in Deutschland. Aber durch Waffenlieferungen wird man völkerrechtlich nicht zur Kriegspartei. Wenn Putin weiter eskalieren will, braucht er keinen Vorwand. Wie beim Überfall auf die Ukraine würde er sich die Gründe zurechtlügen.
Natürlich wäre es sträflich, die Risiken weiterer Eskalation auszublenden. Aber atomarer Drohung begegnet man nicht durch Nachgeben, sondern durch glaubhafte Abschreckung. Es ist wie bei ordinärer Erpressung. Wenn Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine Erfolg hat, macht er weiter. Moldau und Georgien könnten die nächsten Opfer seines nationalistischen Imperialismus sein. Er macht aus seinen Absichten kein Geheimnis. Sein Ziel ist ein imperiales Russland in einer neuen Weltordnung, in der das Unrecht des Stärkeren gilt: Dieser nimmt sich, was er kann, und der Schwächere erleidet, was er muss.
Die Ukraine verteidigt die Charta der Vereinten Nationen. Wer diese Friedensordnung will, muss die Ukraine weiter mit Waffen unterstützen.
Johannes Varwick:
NEIN!Was monatelang als unverantwortliche Eskalation galt, wird inzwischen als sinnvolle Unterstützung der Ukraine verkauft. Die Lieferung von deutschen Kampfpanzern ist insofern ein weiterer Tabubruch in dem von Russland verschuldeten Angriffskrieg gegen die Ukraine, dem vermutlich weitere folgen werden. Kampfflugzeuge oder Kriegsschiffe – so jedenfalls die schon lange geäußerte Forderung der Ukraine – sollten ebenfalls nicht mehr tabuisiert werden. Der Resonanzboden für solche Forderungen in der deutschen und internationalen Debatte wird größer und größer, begleitet von einer immer schriller werdenden Rhetorik. In dieser Logik ist es dann wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch Forderungen nach einer Flugverbotszone oder womöglich auch der Einsatz von westlichen Bodentruppen ins Spiel gebracht werden. Denn genau das wäre die Konsequenz, der Ukraine alles an Unterstützung zu geben, was möglich ist: Whatever it takes!
Über das politische Ziel erfährt man hingegen wenig. Will man wirklich die Ukraine ertüchtigen, ihr Territorium inklusive der Krim zurückzuerobern? Wer die Rede von Wolodymyr Selenskyj im amerikanischen Kongress gehört hat, der kann keinen Zweifel daran haben, dass es der Ukraine nicht um einen tragfähigen Kompromiss geht, sondern um einen Sieg gegen Russland. Das mag aus ukrainischer Perspektive verständlich sein, völkerrechtlich zulässig ist es zudem gewiss. Eine verantwortliche Politik überlegt aber, zu welchem Preis das möglich wäre. So verständlich die Unterstützung der Ukraine ist, so unverantwortlich ist es, der Ukraine bedingungslos in ihrer Siegesrhetorik zu folgen und diese mit zunehmenden Waffenlieferungen zu befeuern. Denn dies führt entweder zu einem jahrelangen und verlustreichen Abnutzungskrieg oder zu einer unbeherrschbaren Eskalation, falls Russland tatsächlich militärisch massiv unter Druck geraten würde.
Bei aller notwendigen Unterstützung der Ukraine bei der legitimen Wahrnehmung ihres Selbstverteidigungsrechtes: Westliche Waffenlieferungen sind weiterhin ein Ritt auf der Rasierklinge. Und die Gratwanderung zwischen militärischer Unterstützung der Ukraine und dem (bisher) erklärten Willen zum Nichteintritt in den Krieg wird damit schrittweise schwieriger. Wer zudem eine komplette Niederlage Russlands zum Ziel beziehungsweise als Voraussetzung für eine Friedenslösung erklärt, der landet letztlich im Krieg mit Russland – gewollt oder ungewollt. Solidarität mit der Ukraine ist also nicht allein eine Frage von möglichst vielen und schweren Waffen. Zu dieser Solidarität gehört auch die Frage nach diplomatischen Initiativen, mit unpopulären, aber realistischen Überlegungen, diesen Krieg zu beenden. Die Panzerdebatte geht insofern in eine falsche Richtung. Die Politik sollte wieder die Diskurshoheit beanspruchen.
Ruprecht Polenz war 19 Jahre CDU-Bundestagsabgeordneter und ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Europakunde.
Johannes Varwick ist Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
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Das Argument eines "russischen Diktat-Friedens" ist unaufrichtig und zweckmäßig verlogen, da inzwischen jeder weiß, dass ein Frieden in diesem Stellvertreterkrieg nur zwischen Russland und den USA ausgehandelt werden kann. Letzte müssen wir nicht aufrüsten, um sie in eine bessere Verhandlungsposition zu bringen.
Ebenso ist die Behauptung "wie beim Überfall auf die Ukraine würde er sich die Gründe zurechtlügen" pure Kriegsrhetorik. Natürlich hat dieser Krieg Gründe. Man mag der Ansicht sein, dass diese eine militärische Invasion nicht rechtfertigen, dennoch gibt es sie. Das Leugnen dieser Gründe von Nato-Offerten bis Minsk-Betrug wird diesen Krieg verlängern, mit mehr Waffen und mehr Toten.