Pro und Contra
Zerstört Corona die Kreativität?

Christoph Seils:
Ja, die Pandemie lähmt das Denken!
Seit mittlerweile einem Jahr gehe ich nicht mehr in Bars, Ausstellungen oder Konzerte. Ich war auf keiner Veranstaltung mehr, auf keiner Party und auch nicht mehr im Fußballstadion. Freunde und Kollegen treffe ich nur noch selten, wenn, dann einzeln. Mein Leben spielt sich weitgehend zwischen Schreibtisch und Küchenherd ab. Unter Leute komme ich nur in Videokonferenzen mit wackeligen Bildern, schlechtem Ton und vor den immer selben Bücherwänden.
Ich will nicht jammern, höchstens ein bisschen. Arbeit habe ich genug und bezahlt werde ich regelmäßig. Gesund bin ich auch. Doch in den Hype um das Homeoffice kann ich nicht einstimmen. Es lähmt das Denken und tötet jede Kreativität. Das Gerede von der Krise als Chance ist vor allem eines: Gerede.
Reisen bildet, Neugier macht erfinderisch. Jeder weiß, Emotionen können uns zu kreativen Höchstleistungen anstacheln. Nur: Wo sollen die neuen Ideen herkommen, wenn man nicht mehr gemeinsam feiert oder streitet, wenn mich niemand anregt, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Wenn es in einer Diskussion nicht auch mal sehr laut wird oder ganz leise. Wenn stattdessen das ganze Leben auf Standby gestellt ist.
Natürlich hat es mich überrascht, wie reibungslos die Arbeit nach Hause verlegt werden konnte, wie gut die digitale Technik funktioniert und wie schnell sich alle an die virtuellen Arbeitsabläufe gewöhnt haben. Aber alle arbeiten nur noch in ihren Routinen. Neues, Ungewöhnliches oder Mutiges wird nicht ausprobiert. Es gibt stattdessen ständig Videokonferenzen. Ich habe sogar schon an zwei parallel teilgenommen. Sieht ja keiner. Aber mein Kopf ist schon so eckig wie ein Bildschirm, dabei muss er doch rund sein, damit das Denken die Richtung wechseln kann. Kurzum: Es wird Zeit, dass ich wieder rauskomme, ich will wieder unter Menschen, ich brauche neue Ideen.
Eva-Maria Lerch:
Nein, denn Not macht erfinderisch!
Ich will hier ganz bestimmt kein Loblied auf das Virus singen, das uns zu einem besseren Leben verholfen hätte. Natürlich leide auch ich unter den fortlaufenden Lockdowns, sehne mich nach Kontakten, Abwechslung und dem Ausbruch aus der Gefangenschaft in den eigenen vier Wänden. Aber trotzdem habe ich den Eindruck, dass meine Zeitgenossen und ich in der Corona-Krise erstaunliche neue Ideen und Energien gesammelt haben, denn Not macht bekanntlich erfinderisch.
Die Pandemie hat fast alle eingespielten Alltags- und Arbeitsabläufe, die wir stets für selbstverständlich hielten, außer Kraft gesetzt. Das heißt, dass wir uns keiner Routine mehr überlassen können, sondern uns umstellen müssen. Solch neue Herausforderungen aktivieren die Gehirnzellen. Für mich hat das erst mal bedeutet, dass ich mich in digitale Programme wie slack, zoom und teams einarbeiten musste, obwohl ich schon über sechzig bin und mir die Mühe sonst nicht gemacht hätte. Jetzt bin ich froh, dass ich das alles gelernt habe, finde es bisweilen sogar spannend, kann mit Freunden aus der Ferne Bildschirmbilder malen und vergnügt in der weltumspannenden Emoji-Sprache kommunizieren.
Meine Frauengruppe, die sich bisher in geschlossenen Räumen versammelt hat, trifft sich nun zu Wanderungen, wo wir in wechselnden Zweierformationen über matschige Pfade stapfen und dabei überraschend vor Aus- und Einsichten stehen, die wir vorher nie gehabt haben. Und ein Freund, der im November Geburtstag feiert, lud uns diesmal nicht auf sein Sofa, sondern paarweise zum Lagerfeuer mit Glühwein unterm Sternenhimmel ein. Seine anderen Feste haben wir längst vergessen, dieses nicht.
Irgendwann, wenn diese schlimme Pandemie sich endlich ausgewütet hat, werden wir den Lockdown vielleicht wie einen Retreat betrachten, der schwer zu ertragen war – und aus dem doch eine neue Energie erwachsen ist.

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Zerstört Corona die Kreativität?
Mitarbeiter von Publik-Forum im
Ressort »Politik«
Eva-Maria Lerch ist Redakteurin im Ressort »Leben und Kultur« von Publik-Forum
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