Pro und Contra
Soll der Pflegegrad 1 bleiben?

Monika Müller-Herrmann: Ja!
Seit zwei Jahren bin ich pflegende Angehörige, mein Ehemann ist dement. Um jeden Pflegegrad für meinen Mann habe ich kämpfen müssen, immer wieder musste ich Widerspruch einlegen. Vielen pflegenden Angehörigen geht es ähnlich. Nun wurde diskutiert, den Pflegegrad 1 abzuschaffen. Doch als Altenpflegerin und jemand, der lange Zeit selbst einen Angehörigen gepflegt hat, weiß ich, wie wichtig dieser Pflegegrad ist.
Die erste Zusage, hauswirtschaftliche Hilfen in Anspruch nehmen zu dürfen, war für mich und meinen Mann eine sehr große Verbesserung unseres ohnehin schwierigen Alltags. Dieser erste Schritt war sehr wichtig, denn von diesem Zeitpunkt an konnten wir unter anderem eine Pflegeberatung in Anspruch nehmen und den Kontakt zu einem Pflegedienst unseres Vertrauens aufbauen, der uns dann in weiteren Krankheitsstadien geholfen hat. Konkrete Pflegeleistungen benötigte mein Mann damals noch nicht, aber die hauswirtschaftliche Hilfe war schon eine echte Entlastung. In der Zwischenzeit haben wir einen Platz in einem Pflegeheim erhalten. Dieser Übergang war nur möglich, weil mein Mann inzwischen einen höheren Pflegegrad hat.
Als ich in den Nachrichten hörte, dass der Pflegegrad 1 abgeschafft werden soll, war ich sehr wütend und schlief eine Nacht darüber. Am nächsten Morgen nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und startete eine Petition. Die Resonanz hat mich völlig überwältigt: Mehr als 220 000 Menschen haben die Petition für den Erhalt des Pflegegrad 1 unterschrieben.
Das fünfstufige Pflegegradsystem mit dem niedrigschwelligen Einstiegsgrad 1 war eine große Errungenschaft bei der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. Gerade Menschen mit Demenz oder alleinlebende Pflegebedürftige mit niedriger Rente und noch geringer Pflegebedürftigkeit profitieren davon. Mit Pflegegrad 1 erhalten sie Zugang zu Pflegehilfsmitteln, zu einem Hausnotrufsystem – und wie wir zur Pflegeberatung und hauswirtschaftlicher Hilfe. Befürchtungen, die Pflegestufe könnte missbraucht werden, teile ich nicht. Ich glaube nicht, dass sich irgendjemand die Mühe machen würde, den Pflegegrad zu beantragen, nur um preiswert an eine Putzfrau zu kommen. Dazu ist das Prüfverfahren viel zu aufwändig und kompliziert.
Inzwischen hat die Pflegekommission entschieden: Der Pflegegrad 1 bleibt. Die Pläne zur Abschaffung wurden zurückgenommen. Doch die Leistungen sollen überprüft und vereinfacht werden. Eines sollte gesichert werden: Pflegebedürftige und ihre Angehörigen dürfen nicht die Leidtragenden von Kürzungen sein.
Bastian Brinkman: Nein!
Es ist nicht leicht, eine Sozialleistung wieder abzuschaffen. Man nimmt immer jemandem etwas weg. Das zeigt sich auch in der Debatte über den Pflegegrad 1. Nach allem, was bisher bekannt ist, hat er sein Ziel nicht erfüllt. Er führt nicht dazu, dass Menschen länger selbstständig leben können – sondern kostet nur Geld. Das fühlt sich für die Betroffenen natürlich anders an. Angehörige schildern, dass die Hilfe aus dem Pflegegrad 1 eine große Stütze sei. Aber aus einzelnen Erfahrungen kann man keine Sozialpolitik machen.
Der Pflegegrad 1 steht schon länger in der Kritik, weil er hauptsächlich genutzt wird, um sich eine Haushaltshilfe kommen zu lassen. 131 Euro monatlich überweist die Pflegekasse dafür an zertifizierte Firmen. Rund vier Stunden im Monat kommt dann jemand zum Putzen oder Kochen. Das ist sicher angenehm, deckt aber kaum etwas ab. 716 Stunden im Monat müssen die Menschen mit Pflegegrad 1 allein zurechtkommen – und schaffen das offensichtlich ja auch. Daher gibt es keinen Grund, ihnen die Haushaltshilfe zu zahlen.
863 000 Menschen haben den Pflegegrad 1 – weit mehr, als bei dessen Einführung prognostiziert wurde. Während die Gesamtzahl der Pflegebedürftigen seit 2017 um rund 50 Prozent zunahm, hat sich die Zahl der Menschen mit Pflegegrad 1 mehr als vervierfacht. Allerdings macht der Pflegegrad 1 im Vergleich zu den übrigen Posten in der Pflegekasse nur ein Prozent der Ausgaben aus. Hier zu sparen würde nicht alle Finanzprobleme in der Pflege lösen. Das ist natürlich wiederum auch kein Grund, das Geld der Beitragszahler schlecht auszugeben.
Das haben auch die Mitglieder der Kommission erkannt, die gerade über Reformen in der Pflege diskutieren. Sie haben ein Zwischenfazit vorgelegt, und der Pflegegrad 1 kommt schlecht weg. Die Haushaltshilfe habe keine präventive Wirkung und könnte entfallen. Damit wäre der Pflegegrad 1 in seiner jetzigen Fassung Geschichte.
Die Bundesregierung hat sich eine große Pflegereform vorgenommen. Sie wird den Menschen einiges zumuten müssen, aber die Solidarkasse sollte für Menschen genutzt werden, die in Not sind. Das ist nicht bei allen älteren Menschen der Fall. Der zu großzügige Pflegegrad 1 hat hier das gegenteilige, das falsche Signal gesetzt. Viele haben genug Geld, um selbst eine Haushaltshilfe zu finanzieren.
Wenn sich die Pflegereformen an den Bedürftigen ausrichtet, bleibt für diese Fälle auch mehr Geld im System. Das würde auch gegen ansonsten immer weiter steigende Beiträge helfen. Die belasten übrigens besonders Geringverdiener, denn Sozialbeiträge sind anders als Steuern nicht progressiv gestaltet.
Monika Müller-Herrmann war als Altenpflegerin in der ambulanten Pflege tätig. Sie arbeitet als Psychologin, Trauerbegleiterin und Demenzcoach.
Bastian Brinkmann ist Korrespondent im Berliner Büro der Süddeutschen Zeitung.




Martin Vogell 26.10.2025, 20:23 Uhr:
Ist es möglich, dass B. Brinkmann keine persönliche Erfahrung als Pflegeperson bzw. betroffener Angehöriger vorweisen kann? Das würde so Einiges erklären ...
Nach meiner Erfahrung ist die Unterstützung im Haushalt selbst mit 1 Wochenstunde ein wichtiger Beitrag, dass ein Mensch länger im vertrauten Umfeld bleiben kann und eben nicht in eine stationäre Pflegeeinrichtung wechseln muss. Und der von pflegenden Angehörigen verlangte persönliche Einsatz bleibt üblicherweise auch mit Entlastung durch eine Haushaltshilfe anspruchsvoll.
Monika Urban 26.10.2025, 10:39 Uhr:
Monika Müller-Hermann kann als Altenpflegerin, Psychologin u n d betroffene Angehörige aus Erfahrung sprechen und sagen, worum es geht.