Den Sozialstaat reformieren

Ein Gespenst geht um: das bedingungslose Grundeinkommen (BGE). Doch seit die britische Politikerin Juliet Rhys-Williams 1943 das Konzept einer negativen Einkommensteuer in Form einer »Sozialen Dividende« alternativ zu klassischen Sozialversicherungssystemen aufgebracht hat, gewinnt die Idee – trotz vehementer Gegner – eine wachsende Anhängerschaft.
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Als 1962 der liberal-kapitalistische Ökonomieprofessor Milton Friedman die Idee starkmachte und 1966 der humanistisch orientierte Erich Fromm wegen der psychologisch positiven Effekte dafür plädierte, war die Idee nicht mehr kleinzukriegen. Mit dem Unternehmer Götz W. Werner nahm die Diskussion des BGE ab 2005 mehr Fahrt auf, als er sich vehement in der Öffentlichkeit dafür einsetzte.
Nun hat der marktliberale – manche sagen marktradikale – Volkswirtschaftsprofessor an der Universität Hamburg, Thomas Straubhaar, unter dem Titel »Radikal gerecht« erneut ein entschiedenes Plädoyer für das BGE vorgelegt. Damit will er den Sozialstaat revolutionieren, um den Herausforderungen der Alterung der Bevölkerung, der Digitalisierung und Robotisierung, um dem ordnungs- und sozialpolitisch kompliziert zu bewältigenden Pluralismus der Lebensformen und den Veränderungen des Arbeitsethos angemessen zu begegnen. So werde »ein Sozialstaat für das 21. Jahrhundert« geschaffen.
Allein der Titel seines Buches verlangt es, seinen Vorschlag auf den Prüfstand zu stellen und zu debattieren. Dass dabei etliche schon bekannte Argumente wiederholt werden, schadet der Debatte nicht. Straubhaar bringt sie auf den Punkt. Er erklärt, wie das BGE funktioniert, warum es notwendig ist, wie es sich finanzieren lässt und wieso es ökonomisch sinnvoll sein kann. Die Beispielrechnung ergibt, dass jeder vom Säugling bis zum Greis monatlich tausend Euro erhält, dafür alle anderen staatlichen Zuwendungen und die staatliche Absetzbarkeit von privat und beruflich veranlassten Ausgaben entfallen. Regulierungen außer der Fünfzig-Prozent-Einkommenssteuer, die dann jeder zu entrichten hätte, gäbe es nicht mehr.
Beim Gerechtigkeitstest wird es für diesen Vorschlag sehr eng: Wie werden regionale Unterschiede der Lebenshaltungskosten (Mieten!) ausgeglichen? Was wird aus den Ansprüchen der jetzigen und künftigen Rentner, die sie schon erworben haben? Was ist mit jenen, die in Krankheit oder in eine Schuldenfalle geraten? Wozu erhält jemand, der eine Million Euro nach fünfzig Prozent Steuern verdient, noch 12 000 Euro im Jahr? Wie wirkt sich die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse aus, wenn der Umstieg in den »Sozialstaat des 21. Jahrhunderts« zu Verwerfungen führt?
Viele Aspekte im Buch sind es wert, aufgegriffen zu werden. Aber das Buch ist zu knapp, um ein Konzept zu ergeben. Und warum kann etwa die Stigmatisierung der Arbeitslosen nicht im jetzigen System mit einer Reform überwunden werden? Der Paradigmenwechsel dereguliert Reichtum, festigt Armut eher und löst sie nicht auf. »Radikal gerecht« geht anders.
Norbert Copray leitet die Sachbuch- und Rezensionsabteilung von Publik-Forum. Der Direktor der Fairness-Stiftung ist Mitherausgeber unserer Zeitschrift.
Leistungen, die nicht vom BGE gedeckt würden, müssten dann – solange, bis sie wieder durch eine Steigerung der BGE-Höhe obsolet würden – bei einer dafür zuständigen Behörde beantragt werden (BGE garantiert also in seiner Höhe ein garantiertes Einkommen, darüber hinaus braucht es weiterhin Bedarfsprüfungen für den Einzelfall).
Auch wenn ein BGE die Höhe des heutigen durchschnittlichen Nettoeinkommens hätte (ca. 1500 Euro), wird es immer noch Menschen geben, die bedeutend mehr Transferleistungen benötigen (Rollstuhlfahrer etc.). Solche speziellen Leistungen müssten dann zwar beantragt und von einer Behörde geprüft werden, aber die 1500 Euro wären auch für diese Menschen ohne Bedürftigkeitsprüfungen garantiert und würden deren Alltag im Gegensatz zur jetzigen Situation enorm erleichtern.