Kriegstagebuch
»Das quirlige Leben fehlt«
In Kyiv ist es jetzt ruhig, die Bewohner sind es auch, nachdem unsere Verteidigungskräfte die russischen Invasoren vertrieben haben. Es gibt noch Barrikaden auf den Straßen, aber ohne bewaffnete Posten. Der Verkehr ist noch nicht wieder wie zu Friedenszeiten. Normalerweise fahre ich mit der U-Bahn ins Büro in dem Ministerium, für das ich arbeite. Aber da die U-Bahnschächte wochenlang als Schutzräume für Familien, Frauen, Kinder und alte Menschen dienten, nehme ich jetzt erstmal das Auto. Auch mein Mann kann wieder in sein Ministerium fahren und muss wie ich nicht mehr von zuhause aus arbeiten, als ständig Fliegeralarm war und Granaten und Raketen im Zentrum einschlugen.
Bewohner, die die Stadt nach Kriegsbeginn verlassen hatten, kehren zurück, auch in unser Haus. Ein Kollege, der mit seinen Eltern ins Umland geflüchtet war, sagte zuerst: »Oh, so viele Menschen!« Aber nun bemerkt er, Kyiv ist immer noch ziemlich entleert. Das quirlige Leben dieser wunderbaren Stadt fehlt. Wir sind ja weiter im Krieg. Als gestern mal wieder die Sirenen heulten, fragte er: »Sollen wir in den Schutzkeller gehen?« Eine Kollegin und ich antworteten: »Wozu?« Wir sind das nun schon gewohnt.
Ich erinnere mich jetzt oft an die ersten Tage dieses Horrors. Eine Nachbarin hat Freunde in Israel, die schon lange darin geübt sind, Raktenangriffen der arabischen Terroristen ausgesetzt zu sein. Sie schickten uns Ratschläge, wie wir uns verhalten und Schutz suchen sollten. Israelis sind Profis, ein ziviles Leben im Krieg zu führen.
Ich weiß nicht, wann in meinem Kopf und für uns wieder normales Leben zurückkehren wird. Ich bin sehr sensibel, deshalb lese und schaue ich wenig Nachrichten über den Krieg. Mein Vater, der mit meiner Mutter in einem Dorf im Norden an der Grenze zu Belarus lebt, tut das schon immer selten, weil Nachrichten für sie normalerweise dort keine große Bedeutung haben. Er hat meiner Mutter gesagt: »Schau Dir das nicht an. Das würde Dich nur aufregen. Mach Dir keine Sorgen!« Ein tapferer Mann. Sie schaut sich die Kriegsnachrichten jetzt alleine an, ohne ihn.
Dass die Gefahr für uns in Kyiv wirklich vorbei ist, glaube ich nicht. Für den Moment sicherlich. Aber in Zukunft wird es neue Versuche geben, uns auszulöschen. Ich weiß nicht warum, abgesehen von historischen Verbindungen, aber die Russen träumen davon, dass die Ukraine ihnen gehört. Nicht uns. Deshalb werden sie nicht aufgeben mit ihrer Aggression, auch wenn Putin irgendwann nicht mehr an der Macht sein sollte.
Ich kann gut verstehen, dass unser Präsident Wolodimir Selenskyi Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nicht empfangen wollte. Steinmeier hat als Außenminister und als Staatsoberhaupt bis zum Kriegsbeginn und auch nach der Okkupation unserer Krim und dem Krieg im Donbass enge Kontakte zu Putin, einem Kriegsverbrecher gepflegt, der einen Völkermord gegen uns verübt. Ich habe vom wahrscheinlichen Einsatz von Chemiewaffen in Mariupol gehört. Ein Lehrer in meiner Schulzeit, der die Jungs auch für ihre Militärzeit vorbereitete, klärte uns damals über Giftgas auf. »Das ist nur theoretisches Wissen«, sagte er. »Ich hoffe für Euch, dass es das in Eurem ganzen Leben bleiben wird.« Ich will mir nicht vorstellen, dass Giftgas jetzt tatsächlich gegen Kinder, Frauen, Männer in Mariupol und anderen Orten und Städten verwendet wird, obwohl der Einsatz von Chemiewaffen seit dem Ersten Weltkrieg international geächtet ist und Russland behauptet hat, es hätte alle Bestände aus sowjetischen Zeiten zerstört. Aber das war eine weitere Lüge. Russland hat Chemiewaffen in Syrien eingesetzt und auch, um Regimegegner wie Nawalny zu vergiften. Der russische Militärführer von Donezk hat ganz offen angekündigt, dass die Chemische Streitmacht der russischen Armee sie in Mariupol einsetzen wird. Also gibt es sie. Ich habe ein Video von Putin bei seine Rede mit Lukaschenko gesehen. Alles Fake – was er sagt.
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Die Schulen sind weiter geschlossen. Meine Schwiegermutter, die in der Nähe wohnt, kommt jeden Tag, um bei unserer Tochter zu sein, während mein Mann und ich uns in unseren Ministerien darum kümmern, die Kriegsfolgen zu beseitigen. Ich war gestern in ihrer Schule, um Schulbücher zu holen, die Sofia im Klassenzimmer gelassen hatte. Auf den Tischen standen Teller und Tassen von Leuten, deren Wohnungen zerbombt worden sind und die alles verloren haben. Sie wurden in dem Schulgebäude versorgt und konnten dort die Sachen lassen, die ihnen geblieben sind. Der Lehrer meiner Tochter fragte uns Eltern, ob wir Dinge für sie abgeben können, vor allem zum Kochen.
Im Untergeschoss der Schule, der als Luftschutzraum gebaut wurde, sah ich noch viele Wasserflaschen und Kartoffeln. Wir hatten im Keller unseres Hauses mit Nachbarn ebenfalls Wasser und Lebensmittel gebunkert. Denn wir wussten ja nicht, wie lange wir dort ausharren mussten. Nach den ersten zwei Wochen, als wir jede Nacht dort unten verbrachten, sagte mein Mann: »Das ist unbequem, das geht nicht. Lass uns in der Wohnung schlafen, wir brauchen den Schlaf für unsere Arbeit.« Also sind wir in unser Schlafzimmer zurückgekehrt, wo uns die Wände schützten. Die Kinder haben während der Angriffe im Korridor gespielt, weil sie da weg von den Fenstern waren.
Ich bin froh, dass das jetzt erstmal vorbei ist. Vor ein paar Tagen hat meine Tochter noch mal Schüsse in der Nähe gehört. Aber zum Glück waren das nur unsere Sicherheitskräfte, die zurückgelassene Waffen und Munition der russischen Angreifer beseitigten.
Aufgezeichnet von
Ludwig Greven.
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