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Robert

vom 28.05.2020
von Gertrud Edelmann, Heidelberg

Robert besuche ich normalerweise sehr gern. Dort ist man in der Natur. Wenn ich bei ihm bin, sitze ich immer auf derselben Bank, die besonders in den Morgenstunden sonnenbeschienen ist. Der Weg zu ihm ist mit kleinen Steinchen bestreut, die rascheln vertraut beim Laufen dahin. Man ist von Bäumen und Sträuchern umgeben. Vögel fühlen sich bei ihm wohl, zwitschern mir immer fröhlich ins Ohr, und Eichhörnchen turnen ganz in der Nähe ohne Angst an den Eichen und Buchen rings um den vertrauten Platz, den ich eigentlich fast täglich besuche, um zu sehen, wie es Robert geht, ihm zu erzählen, was es Neues gibt. Die Bank bei ihm ist immer von Blumen umsäumt. Im Frühling sind es zuerst Schneeglöckchen, dann Tulpen und Osterglocken. Ein blühender Magnolienbaum säumt dann den Weg zur begehrten Bank am lauschigen Platz bei ihm. Im Sommer sitzt man dort in einem Blütenmeer von Rosen, Nelken, Lilien, Geranien, Kornblumen und Lupinen. Der Rhododendron ist immer gegenwärtig, und wenn der Sommer sich bald verabschiedet, zeigen sich Lavendel, Chrysanthemen und Astern mit ihrem Duft und in ihrer Schönheit. Robert verabschiedet sich nie, er ist immer da, er freut sich über Besuch, auch im Winter ist es schön auf der Bank bei ihm, wenn die Christrosen blühen, der Schnee die Bank und das Gras bedeckt. Er hat immer ein offenes Ohr für alles, was einem auf dem Herzen liegt. Er ist ein guter Zuhörer, lässt sein Gegenüber ausreden und ist unglaublich geduldig. Er kennt mich, wenn ich zornig bin und mich über etwas geärgert habe, wenn ich schimpfe und sauer bin. Er hört mir zu. Er kennt mich, wenn ich fröhlich und guter Dinge bin, dann freut er sich mit mir. Er kennt mich, wenn ich traurig bin, dann zeigt er stilles Mitgefühl und lässt mich weinen, solange ich es brauche. Für Trauernde hat er ein ganz besonders gutes Gespür.

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Auch wenn ich Freunde mitbringe, ist er interessiert, verständnisvoll und einfühlsam. Bei ihm fühlen auch sie sich wohl. Dort kann man in Ruhe miteinander sprechen, denn er würde niemals ein Geheimnis ausplaudern, er ist absolut vertrauenswürdig, und so kam es, dass ich dort viele persönliche Gespräche mit meinen Freunden führen konnte. Da durfte ich die gute Nachricht erfahren, dass eine Freundin schwanger geworden war, als es noch ganz neu für sie selbst war. Da erfuhr ich auch, dass eine andere Freundin ihr Leben völlig verändern würde, ins Ausland zu gehen plante, und dass ein Freund beabsichtigte zu heiraten. Dort konnte ich mit Freunden auch erörtern, wie man mit Ärger und Problemen im Berufsalltag oder auch zu Hause umgehen könnte.

Zu ihm kann ich kommen, wenn der Alltagswahnsinn über mich hereinbricht, wenn ich die Welt kurzzeitig gar nicht mehr verstehe, weil sie absurd erscheint, das Wundern abschaffen und den Lärm von mir abschütteln möchte. Bei ihm ist es nämlich ruhig und man kann sich entspannen, wieder zur Besinnung kommen, wieder fühlen, was wirklich wichtig ist im Leben, denn die meisten Aufregungen sind eigentlich unnötig, weil der Alltag oft kleinkariert ist und vergessen wird, dass man Menschen nicht in Kästchen und Tabellen sperren kann, um sie zu verwalten. Robert weiß das und macht mir Mut, gestärkt wieder zurück zu meiner Arbeit zu gehen, unbeirrt nach meinem Gewissen zu handeln und die Menschen so zu sehen, wie sie sind, ihnen auch zuzuhören, wenn sie scheinbar verrücktes Zeug erzählen, sich für mich absolut unverständlich verhalten, denn jeder hat seine eigene Biografie, seine eigenen Nöte und hat das Recht darauf, ernst genommen zu werden.

Wir haben bei ihm auch schon viel gelacht und Witze über unsere absurde Welt gemacht. Er mag unseren Humor, auch den Galgenhumor, den wir immer wieder mitbringen. Dafür hat er sogar eine besondere Schwäche und amüsiert sich mit uns zusammen. Robert ist das nie zu viel, sodass auch meine Freunde ihn schätzen und lieben lernten. Auch sie besuchen ihn gerne und lieben die Auszeit bei ihm.

Er findet es aber auch nicht schlimm, wenn man einfach mal schweigend auf der Bank bei ihm sitzt und vor sich hinsinniert. Er kann Schweigen und Ruhe sehr gut aushalten. Man kann einfach ohne Worte mit ihm dasitzen, den Hummeln und Schmetterlingen dabei zusehen, wie sie von einer Blüte zur anderen fliegen, dem Rauschen der Blätter lauschen und hören, was diese alten Bäume rings um die Bank zu erzählen haben. Das tut gut.

Robert ist auch sehr tolerant. Es stört ihn nicht, wenn man dort zur Entspannung eine Zigarette raucht. Er ist da ganz unverkrampft. Das macht ihm nichts aus. Auch einige meiner Freunde schätzen das sehr an ihm, und manchmal verabrede ich mich sogar deshalb dort bei ihm. Das schafft Gemeinschaftsgefühl. Robert versteht das. Vor einiger Zeit schlenderte ein Kollege zufällig vorbei und sah mich auf der Bank sitzen. Er rauchte seine Pfeife und setzte sich ein Weilchen zu mir. Robert fand das interessant und beschwerte sich in keiner Weise. Er hörte ihm genauso geduldig zu wie mir, als er mir von seiner Odyssee über die Kontinente erzählte, von seinen Lebenserfahrungen, seinen Lebensenttäuschungen und seinen Lebensfreuden – die ihn schließlich hier landen ließen.

Wenn ich mich nicht täusche, ist Robert auch durchaus wissensdurstig, denn mir fiel schon häufiger auf, dass er gebannt zuzuhören scheint, wenn ich mich mit Freunden bei ihm auf der Bank über die Geschehnisse in dieser Welt unterhalte. Er ist wohl weniger mit der neuen Technik vertraut, besitzt auch kein Smartphone und keinen Fernseher. Selbst ein Radio habe ich noch nie bei ihm gehört. Er scheint manchmal dankbar zu sein, wenn er erfährt, was es so Neues in der Welt gibt und was wir darüber denken. Als ich ihm erzählte, dass im letzten Jahr über 1600 Übergriffe auf Flüchtlinge verzeichnet wurden, schwieg er nur. Dass Menschen im Meer ertrinken, weil sie auf ihrer Flucht von niemandem an Land gelassen werden, hat ihn sehr mitgenommen. Als ich mich dort über die letzte Präsidentschaftswahl in den USA unterhalten habe, zeigte er sich absolut sprachlos. Auch als er vom Brexit hörte, sagte er nichts mehr. Offensichtlich nimmt er sehr großen Anteil am Schicksal der Menschen und kann traurige und absurde Begebenheiten nur schwer verkraften. Vielleicht ist das der Grund, warum er kein Internet hat?

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Bis vor ein paar Jahren stand sein Name noch eingeritzt auf einem Stück Holz gegenüber der Bank. Das ist inzwischen weg, und dort wächst jetzt frisches, junges, saftig grünes Gras. Schlimm ist das aber nicht, denn meine Freunde und ich wissen auch ohne Schild, wo er wohnt.

Ich denke oft an ihn, denn ich kann mich zurzeit nicht mit ihm treffen. Aber ich weiß, dass auf dem Weg zu ihm der Magnolienbaum steht, der jetzt seine ganze Schönheit zum Ausdruck bringt. Ich kenne ihn, weil er mich dort jedes Jahr im Frühling mit seinen Blüten begrüßt. Vielleicht ist er erstaunt darüber, dass ich jetzt schon eine ganze Weile nicht mehr an ihm vorbeigelaufen bin. Vermutlich werden sich auch die Eichhörnchen dort wundern, wo ich bleibe, und ohne mich die Bäume hinauf- und hinunterklettern. Die Amseln dort singen dort nun jetzt ja auch ohne mich ihr Lied.

Im Moment wird er meine Freunde und mich wohl sehr vermissen. Wir besuchen ihn nämlich alle zurzeit nicht. Wir bleiben zu Hause, damit sich das Virus nicht so schnell verbreitet. Ihm würde dies sicher nichts ausmachen, aber anderen auf dem Weg dahin würde dies womöglich schon schaden können oder vielleicht auch uns selbst. Auch dem Magnolienbaum, den Forsythien, Tulpen und Osterglocken ist es egal, was wir Menschen so treiben. Sie läuten den Frühling ein, als wäre nichts geschehen. Sie leben das Leben farbenfroh weiter und singen das Loblied auf die Natur.

Wenn Robert wüsste, was im Moment auf der Welt los ist, würde er sich im Grab herumdrehen, auch wenn der Bergfriedhof ein wunderbarer Ort ist, an dem man sich wohlfühlen kann. Vielleicht ist er froh, dass er schon vor langer Zeit gestorben ist.

Aber vielleicht hat er ja auch deshalb kein Internet, weil er als fliegender Robert unsichtbar mit seinem Schirm über unsere Stadt segelt und sowieso viel mehr weiß als wir. Über kurz oder lang werden wir dich wieder besuchen, Robert.

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