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Kriegsalltag in Kiew
»Wir beten jetzt alle«

Natalia P. lebt mit ihrer neunjährigen Tochter und ihrem Mann am Westrand von Kiew. Beide arbeiten für die Regierung. Über Skype erzählt sie uns über ihren Kriegsalltag.
vom 22.03.2022
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Natalia P. berichtet via Skype über den Kriegsalltag in der Ukraine. (Fotos: Privat; pa/Ceng Shou Yi/NurPhoto)
Natalia P. berichtet via Skype über den Kriegsalltag in der Ukraine. (Fotos: Privat; pa/Ceng Shou Yi/NurPhoto)

Am Wochenende konnten wir endlich mal wieder raus, obwohl am Sonntag Gefechtslärm von Bodenkämpfen zu hören war, nicht wie sonst von Raketenangriffen. Unsere Tochter Sofia konnte in einem Park in der Nähe mit anderen Kindern spielen und toben. Sonst trifft sie sich nur mit Kindern von Nachbarn in unserem Haus, um Zeit miteinander zu verbringen und am Computer zu spielen, obwohl mir das nicht so gefällt.

Tagsüber ist es jetzt schon recht warm, der Schnee ist geschmolzen, nachts ist es weiterhin um die Null Grad. Unsere Heizung funktioniert, wir haben Strom und warmes Wasser. In den Geschäften in unserer Gegend gibt es genügend zu Essen, Milch, Brot, Butter, Tee, manchmal sogar Fleisch und Fisch. Im Vergleich zu anderen Gegenden in Kiew und den Menschen in anderen Städten haben wir es also noch recht komfortabel. Kollegen und Freunde von mir, die woanders wohnen, haben nicht so viel Glück. Bei ihnen sind ständig Angriffe zu hören und es gibt teilweise furchtbare Zerstörungen. Wir stehen regelmäßig in Verbindung und achten aufeinander.

Da Sofia seit Kriegsbeginn nicht zur Schule kann, schickt ihr Lehrer ihr und uns als Eltern jeden Tag Aufgaben. Wenn sie etwas nicht versteht, muss ich es ihr erklären. Das ist nun auch mein Job. Und sie lernt zusammen mit anderen Kindern aus dem Haus und unterhält sich mit Freunden über ihre Smartphone oder sie malt. Manchmal besuchen wir ihre Oma, meine Schwiegermutter. Sie wohnt nur einen Kilometer entfernt. Dann kann sie mit ihrer Enkelin spielen, das lenkt sie beide vom Krieg ab.

Meine Tochter hat einen eigenen Blick auf den Krieg. Sie sagt mir, nicht alle Russen sind daran schuld, Du darfst nicht auf alle böse sein. Für mich ist das anders. Ich mag die Russen nicht, sie sind aggressiv. Ich mag auch die Russische Sprache nicht. Wir mussten Russisch in der Schule lernen, in Kiew leben viele Russen, Russisch war in der UdSSR Amtssprache. Aber ich bevorzuge es, mit meinen Kollegen Ukrainisch zu reden. Auch mit meinem Mann, obwohl er eigentlich Russisch spricht, wie unser Präsident. Für uns Ukrainer ist das kein Problem, wir haben ihn mit großer Mehrheit gewählt.

Putin behauptet, er will die Russen in der Ukraine von ihm und seiner Regierung befreien. Aber in Wahrheit will er unser Land erobern. Leider gibt es immer noch einige Russen hier, die auf seine Lügen hereinfallen.

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Mein Mann arbeitet für die Regierung. Eigentlich muss er in seinem Ministerium sein, aber wenn gerade wieder Lufangriffe sind, kann er nicht dahin. Dann leitet er seine Abteilungen von zuhause aus. Ich arbeite im Moment nur in unserer Wohnung, denn der Weg zum Ministerium für lokale Sicherheit, in dem ich arbeite, ist zu gefährlich. Normalerweise brauche ich eine Stunde dahin, jetzt sind es zwei oder drei Stunden, und ich möchte nicht unterwegs sein, wenn Bomben fallen, sondern bei meiner Tochter.

Teile der Ministerien wurden aus Sicherheitsgründen außerhalb von Kiew verlegt. Wenn es der russischen Armee doch gelingen sollte, unsere Hauptstadt zu erobern, werden wir von dort aus weiter das Land regieren und verwalten. Mit den modernen Kommunikationsmitteln geht das. Mit meinen Kollegen verständige ich mich über Messenger oder andere Kanäle. Wir müssen jetzt viel effizienter arbeiten. Es gibt so viel zu tun.

Den Krieg mal für einen Moment zu vergessen und zu entspannen gelingt mir kaum. Nur wenn ich mit meiner Tochter spiele. Dann lachen wir auch mal. Krieg ist jetzt unsere Realität. Ihm kann man nicht entkommen. Das ist für alle Ukrainer, die das Land nicht verlassen haben, psychologisch sehr schwierig.

Ich gehöre keinem Glauben an. Trotzdem bin ich ein religiöser Mensch. Ich habe auch früher schon gebetet, aber jetzt viel stärker, mit einer ganz anderen Inbrunst. Gebete sind für uns alle in dieser Lage sehr wichtig. Sonst dreht man durch.

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Ludwig Greven
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