Ein Prediger gegen die Angst

Thomas de Maizière, Mitglied im Präsidium des Evangelischen Kirchentags, darf sich bestätigt fühlen – und er genießt diesen Moment sichtlich. Die Westfalenhalle ist sehr gut gefüllt, und das, obwohl es sich um ein »Dinosaurierformat« handelt: Ein langer Vortrag mit Möglichkeit zum Nachfragen. Keine kontroverse Talkshow, kein Expertengespräch, kein World-Cafe, keine filmischen Einspielungen oder Powerpointfolien. Volle Konzentration auf das Wort. Eigentlich eine Zumutung angesichts heutiger Möglichkeit. Er habe für dieses Format gekämpft, sagt de Maizière. Das Risiko hat sich gelohnt.
Heribert Prantl, ehemals Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, erweist sich als mitreißender Prediger gegen die Angst. Dass er eine Affinität zum Christentum hat, wissen die Leser seiner Kommentare schon lange. Kaum ein anderer versteht es so wortgewaltig, seine politisch-moralischen Forderungen biblisch zu grundieren, ohne dabei ins Frömmlerisch abzudriften. Wer einen Leitartikel über das Beten verfasst und als Katholik den theologischen Ehrendoktor der evangelischen Fakultät Erlangen erhalten hat, ist eigentlich prädestiniert, bei großen Christentreffen aufzutreten. Man fragt sich, warum er nicht schon längst Stammgast ist.
Prantl füllt an diesem Vormittag das Vakuum, das große Kirchentagspredigerinnen und -prediger wie Dorothee Sölle, Helmut Thielicke oder Jörg Zink hinterlassen haben. Rhetorisch brillant, biblisch versiert und phänomenologisch präzise widmet er sich dem Thema Angst und Vertrauen. Er parallelisiert zum Beispiel die Fridays-for-Future-Bewegung mit dem Pfingstereignis, die Angst Greta Thunbergs mit der Angst der Jünger, die Passagen des Lukas-Evangeliums über die große Bedrängnis mit den Vorboten des politischen Unglücks, die er im populistischen Extremismus festmacht. Und er philosophiert darüber, was es wohl zu bedeuten hat, dass Jesus als Menschensohn vorgestellt wird – in einer Zeit, in der die damaligen Herrscher sich als Göttersöhne wähnten. Ob uns das heute nicht auch bekannt vorkomme?
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Prantl nimmt die Angst ernst – als Frühwarnsystem und Weckruf zum Handeln. Und er relativiert sie gleichzeitig. Die Zukunft komme eben nicht schicksalhaft und alternativlos auf uns zu, sondern sei offen, abhängig von vielen kleinen Entscheidungen. Hoffnung allerdings gibt es nicht umsonst. Sie entsteht beim Tun. Wären die Jünger im Raum geblieben, gäbe es das Christentum nicht. Diese positive Rückversicherung bei den Quellen tut den Zuhörern sichtlich gut, zumal Prantl das Widerstandspotenzial des Christlichen einzeln durchdekliniert. Von einem Mikroklima des Respekts bis zu Sitzblockade und Kirchenasyl. »Ich bin überzeugt, dass das 21. Jahrhundert einmal daran gemessen wird, wie es mit den Flüchtlingen umgegangen ist.«
Den berühmten Satz von Helmut Schmidt: »Wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen« dreht Prantl ins Gegenteil: Wer keine Visionen habe, brauche einen Arzt. Denn die Kraft der Hoffnung sei die eigentliche Kraft gegen die Angst.
Er sei inhaltlich nicht mit allen politischen Forderungen einverstanden, sagt de Maizière bei seiner Einführung. Doch dem leidenschaftlichen Plädoyer von Prantl – das edelste Ziel des Journalismus sei es, Gespräche und Debatten anzuregen und Unrecht aufzudecken – kann er nur zustimmen. Wie sehr sich der Kirchentag nach dieser geistlich-politischen Fundierung gesehnt hat, kann man an den Reaktionen erkennen. Standing ovations und nicht enden wollender Applaus.