Buchtipp
Nicht verstehen, wahrnehmen
Roman. Er hat das Buch nicht mehr zu Ende bringen können – trotzdem ist Gerhard Roths »Jenseitsreise« irgendwie doch fertig geworden. Zeitlebens beleuchtete der bedeutende österreichische Schriftsteller die fehlende Aufarbeitung der NS-Geschichte durch sein Heimatland. Im Jahr 2022 starb er, wenige Monate vor seinem 80. Geburtstag. Womöglich ging er auf die reale »Jenseitsreise«, die er in den Monaten zuvor imaginierte und in Notizbüchern festhielt. Was der Autor kurz vor seinem Tod aufs Papier brachte, ist so verwirrend wie erhellend: In seinem Buch durchläuft der Erzähler, Franz Lindner, seine Suche im Jenseitigen in surrealen Dimensionen – in Gestalt eines Menschen, aber auch einer Raupe oder einer Elster. Der Tod beendet die Erzählung nicht, sondern leitet sie ein, denn Franz Lindner, Roths Alter Ego, begeht gleich zu Beginn einen Mord an sich selbst: »Ich war aus der Welt geflüchtet, in der ich meine Einsamkeit nicht länger ertragen hatte, die Sinnlosigkeit, das Verstummen der Menschen und das Fehlen von Liebe«, berichtet der Erzähler. In traumartigen Erinnerungen durchlebt er die Ur-Ideen der unterschiedlichen Religionen dieser Welt und begegnet Denkern und Schriftstellerinnen wie Karl Marx, Hannah Arendt, Dante Alighieri und vielen mehr, die Roth zeitlebens geprägt haben.
Leicht verständlich ist das Buch nicht. Doch lässt man sich ein, erlebt man auf seltsame Weise koexistierende Wahrheiten. Das zugrunde liegende Prinzip: »Es gibt Zeiten, in denen wir der Vernunft gehorchen, Zeiten, in denen wir unseren Gefühlen ausgeliefert sind, und Zeiten, in denen wir in der Liebe aufgehen.« Auf dieser »Jenseitsreise« ist Raum für alles.
Gerhard Roth: Jenseitsreise.
S. Fischer. 416 Seiten. 26 €