Kino-Tipp
Eine Taxifahrt wird zur Lektion fürs Leben
Kino. Wer »Willkommen bei den Sch’tis« gesehen hat, dürfte sich an die furchteinflößendste Figur dieser Erfolgskomödie erinnern: die gebieterische Mutter des von Komiker Dany Boon gespielten Postlers. In ihrem vierten Film mit Dany Boon verkörpert die nun 94-Jährige eine sanfte alte Dame, die sich nach einem letzten Blick auf ihr Haus in einem Vorort mit dem Taxi quer durch Paris in ein Seniorenheim chauffieren lässt. Ihr Fahrer Charles ist so gestresst, dass er kaum ein Wort hervorbringt. Doch der liebenswürdigen Madeleine gelingt es, ihn aufzulockern. Spontan bittet sie ihn, einige Stationen aus ihrer Vergangenheit abzufahren. Im Zickzackkurs über die Peripherie, die Seine und durch die Pariser Boulevards entfaltet sich in Madeleines Rückschau ein Leben voll brutaler Kurswechsel, beginnend mit einer großen Liebe, die zu entsetzlichem Kummer führte. So wird ihr verstörter Zuhörer dazu gebracht, seine Existenzängste aus einer anderen Perspektive zu betrachten, sich von der Kurzsichtigkeit der Gegenwart auf die Weitsicht von Madeleine und ihrer Lebenserfahrung einzuschwingen. Das klingt nun potenziell kitschig – doch die Tonart dieses Feelgood-Dramas ist mehr meditativ als sentimental. Obwohl Dany Boon ausnahmsweise nicht den Clown mimt, ist die Handlung nicht ohne Humor. Line Renauds feinfühlige Darstellung des Abschieds vom Leben erzeugt viel Nostalgie. Sie ist nicht nur eine der populärsten französischen Sängerinnen, sondern eine der letzten Zeitzeuginnen des Zweiten Weltkriegs. Als Madeleine verkörpert sie die stille Tragik der durch die Zeitläufte versehrten kleinen Leute und das Unglück der Frauen angesichts der Willkür der Männer. Doch die Zeiten, so die Mut machende Botschaft, änderten sich.
Christian Carion, 101 Min. Ab 12 J.