Glaubwürdig …
Meine Begegnung mit Dorothee Sölle

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Die christliche Tradition habe ich – Pfarrerskind – sozusagen mit der Muttermilch eingesogen: beide Eltern Theologen, der Vater als Nazigegner bei der Bekennenden Kirche. Morgenandachten, Tisch- und Abendgebete waren wie sonntägliche Gottesdienstbesuche Selbstverständlichkeiten, die ich – religiös »musikalisch« – nicht als Zwang erlebte. Die große Geschwisterschar wurde »an der langen Leine« groß, erfuhr zugleich eine intensive Gewissenserziehung im Sinne von: »Du musst selbst wissen, was richtig oder falsch ist, und dein Handeln danach ausrichten. Über Pfarrerskinder wird ständig geredet, das sollte kein Maßstab für dich sein.« Nach der Konfirmation im Kindergottesdienst, Kirchen- und Posaunenchor in örtlicher und überregionaler (von Evangelikalen geprägter) Jugendarbeit mitzuwirken war selbstverständlich. Mit 17 Jahren entdeckte ich Bultmanns »Urchristentum«: Insgeheim bezweifelte dogmatische Aussagen konnten anders verstanden werden: Wie befreiend! Die begeisterte Erzählung davon in Anwesenheit von Kirchenvorstehern führte zu abruptem Raumverweis: Die Eltern gehörten inzwischen der Bewegung »Kein anderes Evangelium« an. Trotz der negativen Resonanz auf die historisch-kritische Forschung in Familie und Leitungsgremium der Jugendarbeit wurden die kritischen Fragen – wenn auch verborgen – weiter gestellt: Was ist – wissenschaftlich gesehen – glaubwürdig an biblischen Texten, an Theologie? Da mein erster Berufswunsch, Pfarrerin zu werden, chancenlos war, 1959 gab es noch kein Pfarrerinnengesetz, begann ich ein Medizinstudium mit dem Ziel, als Missionsärztin nach Afrika zu gehen. Ich setzte mich mit dem Gotteskonzept auseinander, was vor allem im Schreiben von poetischen Texten geschah, die aber geheim blieben. Die Hemmung, jahrhundertealte dogmatische Setzungen zu hinterfragen, war zu groß. Die entstandene innere Spaltung setzte sich mit der Heirat eines Theologen fort: Einerseits blieben die poetisch ausgedrückten Zweifel an der Glaubwürdigkeit dogmatischer Setzungen, andererseits lebte ich – die Tradition weiterführend – als eine in der Gemeinde aktive Pfarrfrau und kinderreiche Mutter (längst aufgegeben das Medizinstudium). Als die Ehe scheiterte, brach das mitgebrachte Glaubenssystem völlig zusammen. An Gottesdiensten teilzunehmen führte zu Tränenausbrüchen. Alles, was – scheinbar? – einmal getragen hatte, war zerbrochen. Die traditionellen Sprachspiele wurden als vergiftet empfunden, taten weh. Dieser Tiefpunkt meines Lebens führte zu Begegnungen, die in eine Art »Neugeburt« im Glauben einmündeten. Das waren zum einen die Gespräche in der Evangelischen Lebenshilfe mit einem Theologen, der zugleich Psychoanalytiker war. Mit ihm konnte ich neben Beziehungsproblemen auch das Gotteskonzept hinsichtlich seiner »verkrümmenden« Aspekte aufarbeiten. Und da war zum anderen die Begegnung mit Dorothee Sölle – zunächst mit ihren Texten, später real, was zur Freundschaft mit ihr führte. Diese Begegnungen brachten die Wendung. Der christliche Glaube konnte neu buchstabiert werden, der Kern der christlichen Botschaft – Jesu Vision des hier und jetzt beginnenden Reiches Gottes – rückte bewusstseinsmäßig in die Mitte und führte dazu, dass ich Theologie studierte und Religionslehrerin wurde. Inspiriert von Einsichten und Positionen heutiger, auch feministischer Theologie, vor allem aber von Dorothee Sölle, entwickelte ich mein Konzept eines wissenschaftlich fundierten Religionsunterrichtes mit weiten Horizonten: Die selbst erfahrene Befreiung wollte ich weitergegeben, und zwar von Anfang an in der Begleitung von Kindern auf ihrem religiösen Weg. Glaubwürdig zu sein bedeutete, Bibeltexte nicht als Tatsachenberichte, sondern als Geschichten mit Kontext einzubringen, keine Aussagen zu machen, die später zurückgenommen werden müssten, den Kindern Freiraum zum Suchen, Fragen und auch Zweifeln zu geben, sie von ihrer eigenen Lebenswelt her Texte der Bibel entdecken zu lassen.
Anna-Katharina Szagun, in Breslau geboren, wuchs auf im großelterlichen Pfarrhaus in Uslar/Solling. Sie war Lehrerin und ab 1981 in der Lehrerausbildung tätig. Ihre Dissertation behandelte die Frage, wie durch Religionsunterricht eine partnerschaftliche Sicht von »Nichtbehinderten« auf »Behinderte« gefördert werden könnte. Von 1992 bis 2005 war sie Professorin für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock. Sie führte eine Langzeitstudie zur religiösen Entwicklung durch. Seit 2009 ist sie in der Kinder- und Jugendarbeit und bundesweit in der Erwachsenenbildung aktiv. Sie hat fünf Kinder und zehn Enkel.
