Spiritprotokoll
Tod und Leben am Kolonnenweg

Über das Jahr verteilt reise ich gern zu entlegenen Orten. Immer für einen Tag von Frankfurt aus mit der Bahn, dem Bus und zu Fuß. Ob ich so auch das Grüne Band an der fränkisch-thüringischen Grenze erreiche? Den Weg, der dort entlangführt, wo einmal der Eiserne Vorhang war? Ich will über diese mörderische Grenze gehen.
Dafür muss ich schon in der Nacht losfahren. Und bin bereits am frühen Morgen in Neustadt an der Saale. »Steigen Sie doch bei mir ein!«, sagt der Busfahrer. Gewöhnlich spricht ein Fahrgast den Busfahrer an. Hier ist es offenbar schon mal umgekehrt. »Vier Mal bin ich die Strecke heute schon gefahren, immer allein«, sagt der Mann am Steuer und freut sich offenbar, dass ich jetzt mit dabei bin. Die Dorfstraßen sind so verschachtelt, dass er sein Steuergeschick vorführen kann. Dabei erzählt er so anschaulich von der Gegend, dass ich auf seinen Rat bereits in Irmelshausen aussteige, früher als geplant: »Da gibt es noch Grenztürme.« Entlang der Grenze, sagt der Busfahrer, könne ich beliebig weit gehen. Der Rufbus greife mich dann schon auf. Und er gibt mir die Mobilnummer des Kollegen.
Wo der Eiserne Vorhang einst zwei politische Systeme trennte, markieren heute Bäume die Grenze. Stacheldraht und Selbstschussanlagen sind verschwunden. An den Bäumen entlang verläuft jedoch noch immer der Kolonnenweg, den die Fahrzeuge der Nationalen Volksarmee damals nutzten, um die Anlagen zu sichern und Republikflüchtlingen auf die Spur zu kommen. Auf dem tödlichen Streifen Niemandsland aber, das damals von keiner der beiden Seiten genutzt werden konnte, hat die Natur ungehindert neues Leben entstehen lassen: Das sogenannte »Grüne Band« ist jetzt die längste Biotopkette Europas, fast 1400 Kilometer lang, und

Weiterlesen mit Publik-Forum Plus:
- Alle über 20.000 Artikel auf publik-forum.de frei lesen und vorlesen lassen
- Die aktuellen Ausgaben von Publik-Forum als App und E-Paper erhalten
- 4 Wochen kostenlos testen
- Ergänzend zu Ihrem Print-Abonnement
- Alle über 20.000 Artikel auf publik-forum.de frei lesen und vorlesen lassen
- Die aktuellen Ausgaben von Publik-Forum als App und E-Paper erhalten
- 4 Wochen kostenlos testen