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Ein Wintermärchen

von Erika Lützner-Lay
vom 23.12.2020
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Angsthase Langohr sitzt vor seinem Bau. Er schnüffelt in die Abendluft.
Angespannt zuckt seine Mümmelnase, wittert in alle Richtungen:
»Es riecht gefährlich – es liegt was in der Luft –, das riecht ganz anders als sonst!«
So gerne will er noch auf die Lichtung hoppeln, sich den letzten fetten Löwenzahn holen – aber dieser Geruch ... hält ihn zurück.
Alles ist anders da draußen.
Seine Hinterläufe fangen an zu zittern, und gerade will er in seinen Bau zurückkriechen – da wittert er ein schweres Stampfen und Keuchen.

Die Braunbärin kommt aus dem Unterholz.
»Riechst du das auch?« fragt Langohr. »Es riecht gefährlich!«
Die Bärin Dickfell trabt näher. Sie hat sich eine sichere Fettschicht von den wandernden Lachsen angefressen. Tagelang hat sie mitten im Fluss gestanden, hat gehamstert ohne Ende.
Nun kann sie aber auch gar nichts mehr aus der Ruhe bringen.
Sie hört nichts.

»Hei du! Riechst du das auch?!«, Langohr schreit aufgeregt. »Es liegt doch was in der Luft!
Ich rieche Gefahr!«
Ganz langsam schaut Bärin Dickfell von oben auf Langohr herab:
»Na und!?
Ich trabe jetzt in meine Höhle. Das mache ich doch jeden Winter.
Ich schlafe jetzt durch, bis es wieder hell und warm wird. Was schert mich das!
Reg dich nicht so auf!«

Während sie das heraus grummelt, flitzt ihr die kleine flinke Maus um die scharfen Tatzenkrallen.
Flink und schlau hat sie alles gehört: »Gefahr, Gefahr in der Luft!«

In Windeseile huscht sie in ihr Loch in der Erde, krabbelt den langen sicheren Mäusegang entlang, und ganz am Ende, da, wo es am dunkelsten ist, rollt sie sich zusammen, ganz eng und schläft, immer tiefer, immer tiefer, bis ihr Herz nur noch ganz selten und ganz leise klopft.

Der Fischreiher Langbein hat lange reglos in der Wiese gestanden und auf ihr Mauseloch gestarrt:
»Wovon soll ich jetzt leben?! Alle, alle Mäuse weg, alles wegen dieser Angst in der Luft!
Wovon soll ich leben? Wo sind alle meine Mäuse!«
Er steht und steht mit langen Beinen und grauem Gefieder reglos in der Wiese, bis es immer, immer dunkler wird. Er wartet lange, immer noch.
Irgendwann verschwimmt sein immer grauer werdendes Gefieder mit der Nachtdämmerung.
So senkt sich der Winter übers Land.
Alles Leben im sicheren Versteck.
Und das Unsichtbare, Gefährliche in der Luft?
Es war doch so erfolgreich, es wollte sich doch nur ausbreiten – schöne warme, blutwarme Wirte finden zum Einnisten und Vermehren – es wollte doch Weltmacht werden!
Und da war es auf dem besten Weg.

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Doch die Welt schläft.
Alleine, nur so aus sich heraus kann es nichts, rein gar nichts!
Jetzt sinkt es aus der Luft in den Boden, vermischt sich verendend mit dem Staub, fault in den Pfützen im Regenwasser vor sich hin – wird leblos – unbedeutend – machtlos.

Ein Nichts.

Die Welt schläft und träumt in den Frühling hinein.

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Alle Beiträge des Erzählprojektes »Die Liebe in Zeiten von Corona«

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