Kinotipp
Warum blieben Schriftsteller in Nazi-Deutschland?
Kino. Erich Kästner sah zu, wie seine Bücher auf dem Scheiterhaufen verbrannten. Warum ging er nicht ins Exil? Auch Klaus Mann konnte nicht fassen, dass der hochverehrte Lyriker Gottfried Benn beim Machtantritt Hitlers in Deutschland blieb. Benn verteidigte sogar das neue Regime gegen die Vorwürfe der Emigranten, die, in »Badeorte« geflüchtet, sich weigerten, beim Neubau Deutschlands mitzuhelfen. Regisseur Dominik Graf ergründete bereits bei seiner Verfilmung von Kästners Roman »Fabian« die Stimmung am Ende der Weimarer Republik. Nun porträtiert er in seiner Dokumentation »Jeder schreibt für sich allein« eine Handvoll einst bekannter Schriftsteller, die blieben und, so ein Schlagwort nach Kriegsende, in die »innere Emigration« gingen. Sein bis ins Heute ausholender Essayfilm basiert auf dem Sachbuch von Anatol Regnier, einem Nachkommen der Künstlerfamilie Wedekind. Er versammelt Zitate, nachgestellte Szenen, Wochenschaubilder und Spielfilmausschnitte. Kommentiert wird die Chronik von Kunsthistorikern wie Christoph Stölzl, Julia Voss und Florian Illies sowie Filmproduzent Günter Rohrbach, der als Einziger auf Jugend- und Lektüreerfahrungen in der NS-Zeit zurückgreifen kann. Neben Kästner und Benn werden die Schicksale von Jochen Klepper, Hans Fallada, Ina Seidel und von ausgesprochenen Nazi-Parteigängern wie Hanns Johst, Hans Zöberlein, Will Vesper – und dessen Sohn Bernward Vesper und seiner Frau Gudrun Ensslin – beleuchtet. Kästner veröffentlichte unter Pseudonym weiter, Lyriker Jochen Klepper diente in der Wehrmacht, um schließlich mit seiner Frau den Selbstmord zu wählen. Andere, wie Hans Fallada, zogen sich aufs Land zurück. So entsteht ein auch moralisch komplexes Zeitpanorama, das seine Spannung besonders durch die omnipräsente Frage, wie man sich damals selbst verhalten hätte, gewinnt.
Jeder schreibt für sich allein (D 2023).
Film von Dominik Graf, 167 Min., o. A.