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Zimmerreise zur Unzeit

vom 30.04.2020
von Petra Dahlemann, Stadtbergen

Die Fahnen flattern anderswo. Venedig mit seinen goldenen Brücken und roten Dächern, die Täler und tiefen Einschnitte der Rocky Mountains – nur eine ferne Erinnerung, ein Echo in unseren unruhigen Träumen. Wir machen Inventur. Geblieben sind:

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Meine Tasse.
Dein Rasierpinsel.
Mein Schrank.
Deine Schublade.
Unser Hund.

Ein flüchtiges Morgengebet und dann kopfüber in die Krise. Der Wetterbericht spricht heiter und wolkig, die Wetterkarte ist selbst gemalt, die Sonne aufgeklebt, morgen pappt sie an einer anderen Stadt. Wir schlürfen den Morgenkaffee und beobachten dabei die Elster, die auf einem wippenden Ast sitzt und uns beobachtet. Die Natur hat uns endlich in den Blick genommen und erwidert ernst unsere Grüße, bevor sie zurückzahlt, was von uns so fürsorglich in sie investiert wurde. Die Zeit dehnt sich, es ist noch lange nicht Mittag. Wir spielen mit unseren sechs Stühlen »Reise nach Jerusalem«, wer übrig bleibt, muss den Abwasch machen. Wir zählen unsere Türen, keine führt nach draußen.

Alle Dinge verändern ihre Färbung. Bergamo, Mailand, New York werden zu Schmerzlauten. Das Gitter an der Fassade des Nachbarhauses ist der Schatten eines Rosenstrauches. Der Wind rüttelt an den Fensterläden, dann wieder Sommer. Wenn wir schlafen, ist es, als ob ein Stein ins Wasser sinkt. Wie hast du geschlafen, frage ich. Wie ein Stein, antwortest du. Die Reiseländer finden auf unseren Teller, Montag italienisch, Dienstag griechisch, Mittwoch Thai. Ein bisschen Ingwer, Chili. Die Gabel wandert fünffüßig durch Berge und Täler unseres Mittagessens. Der Finger fährt über Regalbretter und Steckdosen, sucht nach Staubspuren, einer neuen Aufgabe. Der Kompass zeigt die Himmelsrichtung an, Norden ist, wo der Herd steht, und Westen, wo du mir die Hand in den Nacken legst, mir durch die Haare fährst oder meinen Rücken streichelst. Osten ist, wo der Hund schläft und die Orchideen so still wachsen wie immer.

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Wir sind Teil eines großen Countdowns, Zahl der Infektionen, Todesrate, wer genesen, Verdopplungszahl. Wir sind einstweilen weder krank noch tot, noch genesen. Stolpern durch einen Tag voller Routinen, am Morgen Kaffee, am Nachmittag Tee, möchtest du noch eine Tasse. Die Gardine bauscht wie ein Segel, in der dritten Woche vergeht die Zeit wie im Flug, ängstlich sehen wir ihren verflossenen Stunden hinterher. Ein Nachbarsjunge im Hof ahmt sie nach, breitet die Arme aus im Spiel, schau Mama, jetzt bin ich ein Flugzeug. Irgendwo muss auch ich noch einen Drachen haben, er verstaubt hinterm Regal. Vielleicht sollte ich ihn im Frühlingswind steigen lassen, wer weiß schon, was im Herbst ist, da sind wir vielleicht krank, tot oder genesen. Die Morgenzeitung wird zur Zen-Übung in Beherrschung, lass die Sorgen vorbeiziehen wie eine Wolke, fühle deinen Atem, wenn 800 gestorben sind an einem Tag, wohin mit all den Toten. Du kannst es nicht ändern, ich auch nicht, wir schneiden die Blumen und studieren Oberflächen. Das Fenster im Schlafzimmer hätte eine Reinigung nötig und meine Haare einen Schnitt. Mein Auge öffnet sich zur Großaufnahme, zoomt auf die Zahnpastaspritzer auf dem Spiegel, das vergessene Geschirrtuch in der Ecke, die Zwiebelschalen neben dem Korb mit ihrer braunen Wölbung. Die Ohren öffnen sich in Ermangelung anderer Reize für das Stöhnen der Kaffeemaschine, den Überschallknall des Mixers, das Quietschen eines Garagentores. Wir hören das Gras wachsen und wie sich die Hölzer in die Sonne strecken, das Knistern der sich entrollenden Blätter und wie der Baum einen neuen Ring anlegt: das Jahr von Corona. An unser Grundstück grenzt der Pfarrgarten, dahinter die leere Schale der Kirche. Links davon sind die verschlossenen Kapseln, in denen die Alten liegen, wir sehen sie nicht, wir hören sie nicht, wir dürfen nicht rein. Nur das Schließen ihrer Sonnensegel am Mittag zeigt noch eine Spur von Leben, wie ein Lid, das sich über einem müden Auge senkt. Shut down. Eine Bitte um Begnadigung. Wir erhören euch, wir tun was für euch, wir bleiben daheim.

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Alle Beiträge des Erzählprojektes »Die Liebe in Zeiten von Corona«

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Schlagwörter: KriseCorona
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