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Schaut hin

vom 31.03.2020
von Susanne Brandt, Flensburg
(Foto: Susanne Brandt)
(Foto: Susanne Brandt)

»Wir bleiben zu Hause« – ich gebe zu, dass es mir nicht leicht fällt, mich mit voller Überzeugung hinter dieses Bekenntnis zu stellen, auch wenn ich die damit verbundene Schutzwirkung in der momentanen Situation für wichtig und richtig halte. Rückzug aufs Sofa, um andere zu schützen – das leuchtet ein, das braucht vermutlich diese klare öffentliche Ansage. Und bei Quarantäne oder einer festgestellten Infizierung gibt es da für mich auch überhaupt nichts zu diskutieren.

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Davon abgesehen löst der Satz in mir aber auch ambivalente Bilder aus, bei denen die Welt einfach draußen bleibt und sich der Horizont auf die eigenen vier Wände verengt – begleitet vom Dauerrauschen digitaler Statements, Film- und Fotofluten.

Ich merke: Wenn ich nach draußen gehe – allein, in die Natur, in stille Seitenstraßen –, erfahre ich die Beziehung zur Welt ganz anders als durch den Filter diverser digitaler Angebote im Wohnzimmer. Es geht dabei um mehr als um das Bedürfnis nach Fitness oder um Abwechslung im eingeschränkten Tageslauf.

Durch die Bewegung, durch das Gehen an der frischen Luft verändert sich mein Empfinden und Nachdenken über die Situation bei uns und in anderen Teilen der Welt – einfach, weil mir in direkter sinnlicher Verbundenheit mit der Welt draußen die Verletzbarkeit wie die Schönheit des Lebendigen bewusster wird. Weil ich mich körperlich als Teil des Lebendigen anders spüre. Und weil ich mich in dieser Verbundenheit nicht länger abgeschirmt fühle von dem, was hier wie anderswo geschieht. Es geht mich was an.

Das lässt mich achtsamer werden bei dem, was ich tue, und kreativer bei dem, was ich mir an Strategien der Krisenbewältigung ausmale und erhoffe – mit einem offenen Blick nach vorn.

Da ich in einer Stadt am Meer lebe, ist das mit dem offenen Blick nicht so schwierig. Denn wenn ich hier das Haus verlasse, beginnt die Weite gleich nebenan, und es ergibt sich selten die Gefahr, anderen buchstäblich zu nahe zu treten.

Bei einem meiner Spaziergänge habe ich mir überlegt, ob sich eine Haltung der solidarischen Verantwortung und des Schutzes in dieser Situation noch anders beschreiben ließe als mit »Wir bleiben zu Hause«. Gibt es etwas, was diesen Konflikt zwischen dem so wichtigen Schutz durch Rückzug nach innen einerseits und der nötigen Bewegung in Beziehung zur Außenwelt andererseits aufnehmen oder gar lösen könnte?

Vielleicht: Schaut hin.

Schaut hin – das ermöglicht hier und da eine Begegnung zwischen Menschen im Freien, die sich bei großem Abstand immerhin ein Lächeln, einen Gruß oder ein paar Worte schenken können, Resonanz erleben, für Momente ein echtes Gegenüber sehen.

Schaut hin – das lässt mich darüber nachdenken, wie ich alte und einsame Menschen, aber auch Kinder und Familien im Sinn und im Blick behalten kann, die in meiner Nachbarschaft leben.

Schaut hin – das gibt mir die Chance zu erkennen, wie es den kleinen Läden, Kunst- und Kulturinitiativen in meiner Stadt geht. Manche haben Zettel an ihre Schaufenster gehängt, mit denen sie Vorschläge machen, wie man ihnen während der Schließzeit helfen könnte: durch Fahrradboten oder Gutscheinverkauf, durch Unterstützer-Initiativen oder neu erdachte Dienstleistungen. Sie sind noch da! Und sie brauchen weiterhin Aufmerksamkeit und Wertschätzung.

Schaut hin – das weckt bei mir persönlich auch lebendige Erinnerungen an intensive Begegnung im Herbst 2015, zum Beispiel beim Bahnhof: Dort hatten sich damals in einer ähnlich überraschenden Ausnahmesituation viele Menschen spontan und mit langem Atem über viele Monate um Geflüchtete auf der Durchreise gekümmert. Solche Punkte in der Stadt bleiben reale Orte der Ermutigung – und Fenster in eine Welt, die größer ist als mein Wohnzimmer, größer als die Stadt und das Land, in dem ich lebe …

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Schaut hin – das bleibt im Strudel rasch wechselnder Ereignisse und Nachrichten unverzichtbar, um Informationen und Daten kritisch zu betrachten und sinnvoll zu verbinden mit dem, was unser gemeinsames Leben in dieser Stadt und in dieser Welt trägt und bewegt.

Schaut hin – das ist nach meinem Empfinden ein guter Rat für jede unvorhersehbare Situation, die uns mit dem Fremden konfrontiert. So können wir Achtsamkeit und Respekt üben, Erfahrungen sammeln, nach Orientierung suchen, werden uns auch irren und manches vielleicht falsch interpretieren, weil uns das nötige Vorwissen noch nicht zur Verfügung steht.

Der Zukunftsforscher Franz Kühmayer sagte letzte Woche in einem Interview zum Umgang mit der Krise im Arbeitsalltag: »Überraschungen bewältigt man nicht mit Wissen, sondern mit Kompetenz: beweglich sein, Ideen haben, reagieren.« Und ein paar Sätze weiter stellte er fest: »Sich Gedanken machen, was wir gemeinsam tun können, ist wichtiger als zu wissen, wie man ein Skype-Meeting führt.«

Ich hoffe, dass uns diese Beweglichkeit und Kreativität nicht abhandenkommt, wenn wir jetzt über so viele Wochen zu Hause bleiben. Ich hoffe, dass wir den Blick für das, was wir tun können, nicht zu sehr auf unsere eigenen vier Wände beschränken und dabei den globalen Horizont und die Kraft der solidarischen Verbundenheit aus den Augen verlieren. Ich hoffe, dass wir es schaffen, die uns noch verbleibende Bewegungsfreiheit so verantwortungsvoll und umsichtig zu nutzen, dass es nicht zu einer Ausgangssperre kommen muss.

Deshalb:

Schaut hin – mit der nötigen Vorsicht, Rücksicht und Aufmerksamkeit für das, was uns begegnet.

Schaut hin – mit der staunenden Einsicht in die Zusammenhänge des Lebens um uns herum und mit der nicht zu kleinen Aussicht auf das, was gemeinsam möglich bleibt und werden kann.

Schaut hin – das wird auch das Motto des Ökumenischen Kirchentages 2021 in Frankfurt sein.

Wir werden sehen …

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Alle Beiträge des Erzählprojektes »Die Liebe in Zeiten von Corona«

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Franz Kuehmayer 31.03.2020, 10:50 Uhr:
Vielen Dank für Ihre Gedanken! Es freut mich, dass ich dazu einen kleinen Beitrag leisten konnte! Mehr Positives gibt's übrigens auf http://corona.franzkuehmayer.com -- Herzliche Grüße aus Wien, bleiben Sie gesund und zuversichtlich.F. Kühmayer.