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Das verlorene Glas

vom 10.05.2020
von Andreas Hoffmann, Merzenich

Ich sitze alleine am Kieselstrand eines mittelgroßen Flusses, der soeben sein Hochwasserbett verlassen hat, ohne wirklich sein derzeitiges Bett neu zu machen.

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Vieles liegt noch herum, Unrat der Menschenkinder, die achtlos ihre doch ach so kleinen Abfälle mal eben übers Geländer in den Fluss warfen.

Aus den Augen, aus dem Sinn? Weit gefehlt. Hier ist’s gelandet, wo sich die Bache neben leckerem Wurzelwerk nun auch mit Plastik-Essensresten ernährt, um dem Nachwuchs genügend gute Muttermilch zu spenden.

Wo Rehwild im Morgendunst zum Trinken herkommt und die Ölreste des unsachgemäß entsorgten Kanisters gierig mit in sich aufnimmt.

Unweit von meinem Ansitz, einem geschälten Ast aus dem letzten Borkenkäferüberfall von 2019, liegt ein verlorenes Weinglas, halb leer, könnte man sagen, oder auch noch halb voll. Überrest der gestrigen Geburtstagsfeier in Einsamkeit? Hier oder weiter oben, wo an der querenden Holzbrücke eine Bank mit Herzen steht und im Geländer dahinter sich etliche eingehakte Schlösser zur Ewigkeit befinden.

Ich halte das Glas vorsichtig, mit einem Taschentuch geschützt, es ist ja noch Corona-Zeit, zwischen meinen Fingern und halte es gegen das orangefarbene Morgenlicht. Welch ein zauberhaftes Farbenspiel, das mir zwischen den Rotdornbüschen von der gegenüberliegenden Seite des Flusses herüberscheint und meinen Schatten hinter mir ins Endlose abbilden lässt.

Was mach ich hier, am Morgen nach dem Wieder»anfahren« von allem, nach der Phase II der Krise, des Lockdown einer ganzen Welt, an diesem einen Weltenplatz, hier in der Provinz, Voreifel, nahe der geschlossenen holländischen Grenze?

Ich bin nicht allein, »du bist nicht allein«, heißt es verheißungsvoll im 23. Psalm, »mein Stecken und Stab trösten dich«. Auch wenn ich schon wandelte im finsteren Tal (der Corona-Bedrohung)

Ich bin nicht allein, Gott lässt uns nicht allein, weder im letzten Stündlein noch sonst wo.

Auch nicht diese Menschin hier, der dies Glas gehörte. Ich bin hier mit meiner Hündin, Morgenspaziergang in aller Frühe. Der Hündin ist es völlig egal, was ist und was wird. Sie lebt und tobt jetzt. Sie ist freudig erregt, springt durchs Wasser und versucht den einen oder andern Fisch zu erwischen, wäre doch eine hervorragende Morgenmahlzeit.

Ich schaue erneut auf das Glas wie auf ein Orakel, ein gutes Glas, geschliffenes Kristallglas aus Monschau, aus Münstereifel oder gar aus Mähren?

Wie klein doch die Welt sein kann im Lichte einer bedeutsamen Sache. Da entdecke ich zarte Lippenstiftreste am Rand des Glases. Aus diesem Glas hat eine Frau getrunken, Schneewittchen war hier in der Nähe?

Kalt wird mir in der Morgenfrühe, aber nur äußerlich. Ich drehe das geschliffene Glas in die Morgensonne, gülden perlt das verbliebene Sektwasser in ihm, es duftet sogar noch.

Sicherlich war es randvoll gefüllt mit herrlich perlendem Perlwein, unweit der Perlenbachtalsperre, an diesem morgendlichen, magischen Ort. Welch eine Verbindung, Worte des Lebens, Wasser des Lebens, aufgenommen mit dem Versprechen, vielleicht doch noch 100 Jahre alt zu werden.

Doch nun halb leer – oder auch nur halb leer zum Glück?

So auch wie das zu frühe Ende der derzeit über 7000 Menschenkinder in Deutschland. Sie haben Corona getrunken, Schluck für Schluck, ohne es zu merken, und mussten auf halbem Wege abbrechen, es ging nicht mehr gut, ihnen und allen anderen auch nicht.

So lange, bis sie die 112 um Hilfe baten und sie der Quarantänewagen, unter Plastik verhüllt, ins Krankenhaus brachte.

Noch ein paarmal tief durchgeatmet – und dann?

Vielleicht war das volle – oder das zu volle – Glas der Genießerin auch deswegen nur halb geleert, weil da Erkenntnis kam oder die Ohnmacht, oder?

Alkohol beeinträchtigt die Fahrtauglichkeit durchs Leben, und sie wollte doch leben, weiterleben.

Gerade jetzt, obwohl sie als Krankenschwester soeben ihren 23. Corona-Toten erlebt hatte. Hier, in ihrem Krankenhaus, gleich um die Ecke sozusagen, auf ihrer Isolierstation, trotz- und alledem.

Runter damit, der Sekt schmeckt bitter an ihrem 33. Geburtstag, alleine, isoliert, ohne Freunde und Verwandte. Weg damit, vergessen ist all der Stress der vergangenen 77 Tage.

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Ja genau, heute ist der 77. Tag der Epidemie.

Bei Vollmond und Sternengewitter war sie von der Nachtschicht aus direkt hergefahren, zu ihrem Lieblingsplatz für zwischendurch. Sie hat den Piccolo geköpft und sich voll eingeschenkt.

Voll wurde sie davon nicht, außer mit zerrissenen Gefühlen, Schmerz, Wut, Tränen und Verachtung.

»Du, du verdammtes Virus, was um Himmels willen machst du mit uns«, dachte sie. »Geh, gehe in die Hölle, wo du hingehörst«, dachte sie beim zweiten, tiefen Schluck aus dem Glas. »Geh, geh einfach und komme nie zurück.«

Ich gehe mich nun ausschlafen, 156 Überstunden in 6 Wochen, nicht normal, oder?

Die Sonne strahlt über den gegenüberliegenden Busch herüber mir wärmend in das Gesicht.

Hell wird’s in meinem gefundenen Glas, fast dass es mich blendet. Ja, das Licht. Licht im Dunkel der Analysen, Empfehlungen und Verordnungen.

Das Zaubermittel, das hätte ich nun gerne – für mich.

... der Herr ist mein Hirte, dir wird nicht mangeln ... geht mir durch den Kopf.

Na ja, hoffentlich dann auch bitte keinen Mangel an Ideen und Erfindungen, vor allem gute Forschungsergebnisse für einen passenden Impfstoff
und
viel Gelassenheit, auch für all die Menschenkinder, die so gestresst sind, dass sie einen fast umrennen, trotz 150-Zentimeter-Abstand, mit verrutschter Atemschutzmaske, hinter beschlagenen Brillengläsern.

Wer bist DU?

Ich fröstel und fremdel wie ein kleines Kind, das nach der Hand der Mutter sucht – oder dem Vater?

Ich nehme meine Brille ab, mein Mundtuch und putze den Rand des Glases vom übrig gebliebenen Lippenstift sauber. Welch ein Glanz, halb voll und so schön.

Zumindest in diesem Licht, dem Licht, das Klarheit bringt, Ehrlichkeit und Erkenntnis?

»... uns wird’s nicht mangeln«, welch eine Hoffnung.

Meine Hündin hat andächtig neben mir Platz gemacht.

Sie hat genug rumgetobt, das Virus hoffentlich nun auch? Werden Viren eigentlich auch mal müde?

Ich hebe das geputzte Glas an meine Lippen, na denn, auf eine bessere Zeit, danach.

Gott sei Dank, dass ich so vielen Menschenkindern beistehen durfte und immer noch gesund bin.

Zum Wohle.

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Alle Beiträge des Erzählprojektes »Die Liebe in Zeiten von Corona«

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