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Ich vermisse sie. Ich trauere

vom 26.04.2020
von N. N.

Angst …
Die erste Reaktion.
»Nein, ist nur wie ‘ne Grippe«,
sagen die Kollegen
Aber wegen einer Grippe schließen die Chinesen doch keine Millionenstadt zu …
Na ja, ist weit weg, China …
SARS und Ebola sind hier auch nicht angekommen …
Es bleibt ein komisches Gefühl …
Ich werde mich jetzt besser von Freunden und Bekannten verabschieden.
Die Eltern ziehen sich zurück, besser keine Besuche mehr …
Ich ziehe mich auch zurück, denn ich arbeite im Altenheim …
Hier kann man sich nicht schützen, beim morgendlichen Waschen, beim Essenreichen, beim Helfen auf Klo, da kommt man sich so nah, da kann man sich nicht schützen.
Lockdown … wir haben alle Angst …
Erst geht alles weiter wie gehabt: Mein Freund arbeitet, ich arbeite, zum Feierabend gleich nach Hause, möglichst niemanden treffen. Schnell beim Einkaufen rein und wieder raus, wir bleiben auf Abstand. Und immer wieder Corona-News. Es ist wie ein Zwang. Irgendwie surreal. Unnormale Normalität, schreibe ich Freunden und Familie.

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Die Bilder aus Italien. Krankenhäuser als Infektionsherde. Menschen sterben alleine.
Bin ich froh, dass ich meinen krebskranken Mann vor drei Jahren bis zum Tod begleiten durfte …
Das Heim ist geschlossen, nur wir sind in Kontakt mit den Bewohnern und Bewohnerinnen.
Mein Partner bleibt nun zu Hause. Sie haben kein Material mehr und nun Überstundenabbau.

Ein Bewohner kommt aus dem Krankenhaus zurück. Nein, sie haben ihn nicht getestet.
Die Angst kommt jetzt ganz nahe.
Darf ich meinen Lebenspartner durch meinen Job gefährden? Wie werden dann seine erwachsenen Kinder reagieren? Deren Mutter ist vor zwei Jahren gestorben.
Auch die Kollegen haben Angst.
Einige von uns gehören zur Risikogruppe.
Eine Kollegin hustet. Sie wird noch vor Dienstantritt heimgeschickt …
Die Angst ist jeden Tag dabei.
Die Nerven liegen blank.
Ich bete jeden Tag um Kraft und um Liebe und Geduld mit den Heimbewohnern.

Abends schaue ich in den Sternenhimmel.
»Fürchte Dich nicht!«, sagt Jesus …
»Aber, lieber Gott, in der Welt habe ich Angst.«

Mein Gebetskreis, wir beten für die Leute im Altenheim.

Die alten Leute spüren, dass etwas in der Luft liegt, auch wenn sie es nicht begreifen können. Sie brauchen mehr Aufmerksamkeit, mehr Trost. Noch sind alle gesund.

Meine Kraft schwindet, meine Knochen tun weh. Noch zwei Tage, dann habe ich endlich frei …
Herrn Sowieso geht es nicht gut. Er hat nicht mehr die Kraft, alleine aufs Klo zu gehen. Es ist schwer, denn er geht alle zwanzig Minuten und er wiegt 120 Kilogramm.
Wir messen mehreren Leuten Fieber.
Frau Soundso hat Angst und weiß aber nicht, wovor. Ich mache ihr Mut, immer wieder. Frau Anderswo weint und ist untröstlich. Manchmal kann ich sie ein wenig ablenken.

Letzter Tag. Ab morgen ein paar Tage frei.
Herr Sowieso hat Fieber. Wir bestellen einen Krankenwagen. Die wollen ihn nicht mitnehmen. »Nö, wegen Fieber bringen wir doch keinen ins Krankenhaus, die im nächsten Ort nehmen ihn nicht.« Sagt der Sanitäter. Die Fachkraft kann sie dann überzeugen, ihn mitzunehmen. Verdacht auf Lungenentzündung.
Vorher kleiden die Sanitäter sich dann in volle Schutzkleidung. Wir stehen daneben, nur mit Einmalhandschuhen und einfachem chirurgischem Mund-Nasen-Schutz versehen.

Wir desinfizieren vorsichtshalber das Bett und alle Tische im Bewohnerzimmer.
Viele Bewohner essen heute nur ganz wenig. Viele sind sehr müde.

Feierabend, frei, endlich. Ich bin soo müde.
Ausruhen, Kräfte sammeln.
Abends bekomme ich so ein Kratzen im Hals.
Nein, ich vertrete meine Kollegin morgen nicht. Ich bin soo platt, und ich habe Angst, große Angst.

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Ich schlafe im anderen Zimmer. Mein Partner nimmt es gelassen. »Wir werden es früher oder später alle bekommen …«

Am nächsten Tag kam der Anruf von der PDL: Herr Sowieso hat Corona …
Zwei Tage später mein Test.
Ich bin positiv.
Quarantäne.

Von einer Kollegin erfahre ich: Herr Sowieso ist gestorben. Einige weitere Bewohner und Kollegen sind positiv.

Ich bin froh, nicht zur Arbeit zu müssen.
Ich habe Angst vor dem, was dort passiert.

Mein Partner ist positiv.
Gott sei Dank haben wir beide nur leichte Symptome.

Es macht sich auch Erleichterung breit.
Wenn ich wieder zur Arbeit muss, habe ich es hinter mir.

Unser Wohnbereich ist jetzt Coronabereich.
Von mehreren Stationen wurden alle positiv getesteten Bewohner zu uns verlegt.
Die gesunden Bewohner sind nun in anderen Wohnbereichen untergebracht.
Es sind vier Bewohner, die ich kannte, verstorben.

Ich vermisse sie. Ich trauere.

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