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Immer eine Quelle der Hoffnung

vom 14.12.2021
von Dr. Alexander von Witzleben, Brüssel
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1968 in Münster, katholische Erziehung, Schulstreik und das Ende von Publik 1971.

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Mit der Studentenrevolte von 1968, der Ostpolitik, dem Vietnamkrieg, dem atomaren Rüstungswettlauf und dem permanenten Ost-West-Konflikt war die politische Stimmung in der Bundesrepublik Ende der sechziger Jahre sehr aufgewühlt, obwohl Vollbeschäftigung herrschte und die meisten Menschen einen bis dahin unbekannten Massenwohlstand genossen. Einerseits war die Akzeptanz der Bundesrepublik und ihres Modells der sozialen Marktwirtschaft in der Bevölkerung sehr hoch, doch wurde andererseits ihr Wirtschaftssystem mit den Studentendemonstrationen erstmals seit ihrer Gründung infrage gestellt. Die in dieser Zeit einsetzende Aufbruchstimmung hatte auch die katholische Kirche erfasst, in deren Folge die deutschen Bischöfe es 1986 wagten, Publik herauszugeben, welche die neue gesellschaftliche Unruhe von einem christlichen Standpunkt aus offen und kritisch begleiten sollte.

Ich war gerade 14 geworden, als am 30. Mai 1968 der Bundestag über die Notstandsgesetze abstimmte und wir nicht von der Schule mit dem Bus nach Hause fahren konnten, weil protestierende Studenten den Verkehr in Münster mit einem »Sit-in« auf den wichtigsten Kreuzungen zum Erliegen gebracht hatten. Mitten unter den von uns bis dahin unbekannten Studenten, deren Flugblätter wir lasen, befanden wir uns auf einmal in einer neuen Welt, in der die Weltsicht, die wir bis dahin für gut befunden hatten, infrage gestellt wurde. So fand an diesem Tag unser bisheriges, geordnetes und beschauliches Leben rund um Kirche, Messdiener, Pfadfinder und Schule ein abruptes Ende und wir brachen aus der damaligen strengen Bevormundung durch die katholische Kirche aus.

Ihr war es nach dem Krieg in den katholischen Regionen Deutschlands gelungen, das Vakuum der Erziehung junger Menschen zu füllen, welches sich mit dem Zusammenbruch der staatlich administrierten Jugend-Indoktrinierung unter Hitler aufgetan hatte. Ihre neue starke Position in der schulischen und außerschulischen Erziehung nutzte die Kirche, um Kinder unter der Androhung von Gottes Strafe willfährig zu machen, wozu sie einem rigorosen religiösen Wertekatalog unterworfen wurden, der befolgt werden musste, um nicht in der Hölle zu enden. Seit dem Beginn meiner Schulzeit litt ich sehr unter dem enormen psychischen Druck der damals omnipräsenten Kirche. Körperliche Strafen mit Backpfeifen bis hin zu Schlägen mit einem armlangen, abgebrochenen Zeigestock mit einem Knauf (von uns Zepter genannt) bei schlechten schulischen Leistungen waren bis zu unserem zwölften Lebensjahr wie selbstverständlich üblich. Auch kann ich bezeugen, dass es sexuellen Missbrauch durch zumindest einen Geistlichen gegeben hat.

1968 verwandelten sich innerhalb kürzester Zeit die meisten von uns ab 14 Jahren aufwärts in aufmüpfige Schüler, was sich äußerlich in Jeans und in längeren Haaren ausdrückte. Politisch waren wir getrieben von den Berichten über die US-Kriegsverbrechen in Vietnam. Die neue Rockmusik mit ihren aufwühlenden und zeitkritischen Texten bekräftigte unsere Überzeugung, dass die Welt auf keinem guten Kurs war.

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Gleichzeitig hatten wir infolge eines zunehmend eklatanten Lehrermangels immer weniger Unterricht in naturwissenschaftlichen Fächern und modernen Sprachen. Deshalb streikten wir im Februar 1970 für mehrere Tage erfolgreich gegen den Lehrermangel und wir blieben bis zum Abitur 1973 weiter aufmüpfig, nicht zuletzt angefeuert durch die vielen studentischen Protestaktionen an der Universität, die in unmittelbarer Nähe zu unserer Schule lag. Mehrere meiner Schulkameraden engagierten sich in den neuen linken Parteien, doch ich stieß mich an deren dogmatischen und oft radikalen Positionen.

In dieser Situation half mir die mitmenschliche Seite der Kirche, die in einem starken Kontrast zu den vorstehend geschilderten Zuständen stand, wie z. B. ihr Einsatz für die Schwachen, die in vielen Unterstützungsaktionen für Menschen in Not in Afrika, Lateinamerika, Indien und lokal zum Ausdruck kam. Insgesamt hatte damit meine kirchliche Erziehung Schatten- und Sonnenseiten, wobei die letzteren mit ihren helfenden und mitmenschlichen Aktionen des »Füreinander-da-Seins«, ihre entscheidende Stärke war, für die ich dankbar bin.

Diese Seite der Kirche fand ich von 1968-1971 in der regelmäßigen Lektüre von Publik wieder. Mein Vater hatte die Zeitung von Anfang an abonniert, und wenn ich am Freitagmittag von der Schule nach Hause kam, nutzte ich den Nachmittag bis zu seiner Rückkehr von der Arbeit, um Publik zu lesen. In einem befreiend anderen Stil, verglichen mit dem, den ich von den Flugblättern der Studenten kannte, begleitete die Zeitung kritisch die damaligen Ungerechtigkeiten und Probleme in Deutschland und in der Welt. Diese umfassten den Vietnamkrieg, die Unterdrückung von Menschen in Südamerika, die Haltung von Kirche und westlichen Regierungen zu den Diktaturen in Spanien und Portugal, die heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen um die Ostpolitik, die christlichen und demokratischen Oppositionen in kommunistischen Staaten und die Suche nach neuen menschlicheren Gesellschaftsformen. Publik setzte sich für die Schwachen in der Gesellschaft ein sowie für ein weniger an materiellen Werten orientiertes Zusammenleben. In diesen Jahren, in denen ich selbst ziemlich halt- und orientierungslos war, war Publik für mich immer eine Quelle der Hoffnung, dass es der Menschheit doch gelingen würde, ihre damaligen Konflikte zu überwinden und zu einem friedlicherem Zusammenleben von Menschen und Staaten zu finden, sodass die Zeitschrift mir in meinen Pubertätsjahren von 14 bis 17 eine Stütze war und mir viel Orientierung gegeben hat.

Es war daher ein großer Schock für mich, als die deutschen Bischöfe 1971 beschlossen, Publik einzustellen. Wie viele andere Menschen schrieb ich Leser- und Protestbriefe, beteiligte mich an Protestveranstaltungen in der katholischen Studentengemeinde in Münster und trat der Leserinitiative Publik-Forum in ihrer Gründungsphase bei. Die Freude war groß, als Publik schon wenige Monate nach dem Einstellungsbeschluss unter dem Namen Publik-Forum erneut erschien.

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