Leserbrief
Argumentieren hilft doch
Ein Schlüsselsatz in dem Interview ist: »Ich glaube an die evolutionäre Veränderung, die alltagskompatibel ist.« Es geht um die Schnelligkeit von erwünschten Veränderungen. Die Linken (und Woken) wollen zwar das Richtige, aber sie überfordern mit der geforderten Veränderungsgeschwindigkeit die Mehrheit der Bürger, die sich zudem nicht gern bevormunden lassen. Bei diesen Bürgern herrscht »Veränderungserschöpfung und Veränderungsskepsis«. Nassehi stellt ganz richtig fest: »Wenn auf einmal Selbstverständlichkeiten infrage stehen, dann werden die Leute verrückt.« Das gilt für die Klimakrise, für die ungesteuerte Migration, für die Zahl der Geschlechter, für veganes Essen und ähnliche Themen des sogenannten Kulturkampfes, bei dem Argumente und Differenzierungen keine Chance mehr haben. Der Mehrheitsbevölkerung wird allzu oft das Gefühl vermittelt, ihre Sichtweisen seien moralisch fragwürdig: Beim Thema Migration sei rassistisch, wer seine Angst vor misslingender Integration, vor Clankriminalität und Islamismus äußert, beim Thema Gleichberechtigung sei frauenfeindlich, wer nicht gendert, und im Hinblick auf den Klimaschutz handele unverantwortlich, wer Fleisch isst und mit dem Auto fährt. So gehen die guten Absichten der ungeduldig moralisierenden Progressiven nach hinten los: Die AfD greift die Themen dieses irrational ausgetragenen Kulturkampfes auf und erzielt damit Wahlerfolge in der Mitte der Gesellschaft. Hans-Joachim Schemel, München
Das Argument ist noch nicht tot. Es muss nur richtig angewandt werden. Statt der AfD nach dem Mund zu reden und sich im Bemühen um Abschiebungen von Migranten einander zu überbieten, sollten die bürgerlichen Parteien ihre eigene Erzählung beginnen. Nämlich die von integrations- und arbeitswilligen Migranten, die unser Leben bereichern. Ohne deren Mitanpacken könnten Krankenhäuser nicht mehr bestehen. Wer, außer AfD-Politikern, würde den Tod vorziehen, wenn sein Leben nur durch die Operation eines syrischen Arztes gerettet werden könnte? Klemens Hofmann, Marbach am Neckar

In dem eigentlich recht interessanten Interview mit Armin Nassehi gibt es einen unsäglichen Satz: »Wer Impfgegner war, ist nun auch für Russland und findet womöglich die Hamas und auch die eigene Unzulänglichkeit nicht so schlimm.« Wie Nassehi hier verkürzt und eine beurteilende Aussage salopp hinwirft, trägt er genau zu dem bei, was er im Interview beklagt: Eben weil »es kaum noch möglich ist, mit einem Argument an die Öffentlichkeit zu gehen«, wurden Menschen, die mit kritischen Argumenten gegenüber den Impfungen auftraten, als Verschwörungstheoretiker etikettiert und aus den gängigen Medien aussortiert; wurden Menschen, die kritisch gegenüber Waffenlieferungen und Hochrüstung argumentierten, als Putin-Versteher abgestempelt. Und wer sich für Palästina einsetzen möchte, ist des Antisemitismus verdächtigt und gar »für die Hamas«. Logisch, dass dann alternative Medien-Kulturen entstehen – in denen man natürlich genauso die Spreu vom Weizen trennen muss wie in der sogenannten Mainstream-Presse. »Konkret, differenziert, an der Sache orientiert«, möchte Herr Nassehi die Themen angehen. Ja, genau, das möchte ich auch. Gerlinde Lambeck, Wuppertal




