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Hunger

vom 13.02.2021
von Irmgard Theilen

Kraftlos und hungrig bewege ich mich im Schneckentempo. Die Schritte sind bleiern, die Beine wie gelähmt.

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Der ›Lebens-Rucksack‹ – zentnerschwer und gewaltig – zieht mich heute, mehr als sonst, nach unten. ›Antrieb‹ für den Rollator, der auf der leicht abschüssigen Straße schneller ist als ich.

Abgeschnitten vom Leben – ohne Kontakte, ohne Kultur, ohne Musik und Gesang – blicke ich dem Mangel und meiner menschlichen Not klar ins Gesicht! Es ist ein Riss in der Welt, der auch mein Leben zerreißt. Mehr als sonst fühle ich mich heute hilflos und verloren…

Hunger nach Begegnung, nach Gastfreundschaft, nach Leben in Fülle, nach geistigem Austausch – auch auf Augenhöhe. Hunger nach Blickkontakt, nach Lächeln im Vorübergehen.

Rausgehen, die Welt erleben, den Wind auf der Haut spüren, wie damals als Kind mit offenem Mund die Regentropfen auffangen und schmecken, hören, wie die Welt klingt… Der Dürre und dem Mangel ein Schnippchen schlagen.

Geht das noch?
Oder geht das noch in dieser Wüstenzeit?
Oder – Menschen um meinen Samowar versammeln, das zarte Klirren der kleinen Teegläser beim Umrühren hören, lächelnd, schweigend oder philosophierend in der Runde sitzen. Mit Einheimischen und mit Fremden.

Sind sechs Monate CORONA-ISOLATION nicht genug? Sie verkürzen meine ohnehin überschaubare RESTLEBENSZEIT.

Stillstand statt Unterwegssein. Hunger statt Fülle des Lebens!

Alles steht still, Leben findet nicht mehr statt.

»Ich kann nicht mehr«, höre ich mich immer öfter sagen. Ich zu mir selbst; denn da ist niemand, der hört!

Ich bräuchte ein Stück Brot – jetzt!

Diese Schwäche heute ist auch Unterzuckerung – um Stunden bin ich im Verzug mit dem Spritzen von Insulin.

Brot-Bilder schwirren vor meinen Augen. Ich setze mich auf eines der Mäuerchen, die die Vorgärten begrenzen, und kaue im Geiste BROT so lange, bis es – vermischt mit Speichel – süß schmeckt.

Erinnerungen an die Nachkriegszeit.

Da gab es zwar Brot genug, aber es war Mangel an vielem, was zum Wachsen, zum Leben unabdingbar gewesen wäre…

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Erinnerungen an das Fladenbrot, das in türkischen Haushalten mit mir gebrochen und mit mir geteilt wurde…

Erinnerungen auch an unsere Zeiten im Salzburgerland zwischen Kleinarl und Jaga-See. Da stand ich oft mit meinen Kindern am Brotbackhaus vom ›Bauer Hans‹, wo die Großmutter zwanzig oder mehr Laib Brot aus dem Ofen holte. Ihre Enkelin Barbara legte diese in ein Wägelchen und fuhr sie zum Haus. Würziges, schweres Brot – es wurde nicht alt, nicht hart, es schmeckte anders und es war genug für unser aller Hunger.

Heute, das weiß ich, gibt es in meiner Wohnung kein Brot!

Gedankenverloren mache ich mich wieder auf den Weg. Auf dem Gehweg kommen mir Menschen entgegen. Von Weitem erkenne ich ein kleines Kind. Hinter dem Kind kommt eine junge Frau. Ich muss gelächelt haben, denn sie sagt:

»Möchten Sie auch eines?«

»Was?«, frage ich verdutzt.

»Ein Brot, es ist noch warm.«

Während ich ungläubig meine Augen weit aufreiße, greift sie in eine braune Papiertüte, holt ein Brötchen heraus und legt es in meine ausgestreckte Hand. Lachend und weinend, stammelnd und stotternd danke ich, frage nach ihrem Namen und wo sie wohne…

»Dort oben in dem weißen Haus.« Sie läuft weiter, um das Kind einzuholen.

Ich beiße in das warme Brot und halte den Rest ganz ehrfürchtig in meiner Hand. Es ist himmlisch, ein Geschenk von oben – dieses Stück Brot im richtigen Augenblick.

Nichts ist wirklich wie ›weggeblasen‹: nicht meine Not, nicht mein Hunger nach Begegnung und Dialog, nicht mein Hunger nach Brot und Leben. Aber es ist eine tiefe Glückseligkeit in mir. Dieses Brot ist so zeichenhaft. Es stillte meinen Hunger, es war geschenkt von einem fremden Menschen, eine Augenblicks- begegnung im Vorübergehen.

Mehr braucht es nicht in dieser Welt. Begegnung, Lächeln und die Geste des Teilens durch Menschen wie Ayse!

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Schlagwörter: HungerBegegnungLeben
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