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Ein weites goldenes Netzwerk

vom 16.04.2021
von Erika Lützner-Lay

3. April 2021. Es klopft. Der Tag fängt verstörend an.

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Beim Morgentee lese ich in der Zeitung mit Neugier einen futuristischen Artikel eines indischen Wissenschaftlers. Ungefrühstückt verstehe ich den Extrakt: Teile der Erde werden in Jahrzehnten wegen Klimafolgen und Dürre unbewohnbar sein – als Folge Migrationsströme ohne Ende.

Mir wird merkwürdig ruhelos und schwindlig.

Überfordert! Ich lege die Zeitung weg und fahre auf den Markt. Handfestes, Regionales, Intaktes, das wird mich ablenken.

Auf dem Markt stehen die Menschen geduldig in Schlangen mit 1,5 Meter Abstand vor jedem Stand – ohne Kontakt, ohne Blickkontakt und Gespräch – alle mit Maultasche maskiert –, nichts für mich. Beim Blumenstand ist es leer. Da tröste ich mich mit einer besonders üppigen Schale blauer Narzissen. Die mag ich besonders! Und erst mal ihren Duft!

»Noch schnell die Kontoauszüge an der Bank holen«, denke ich. Ich stecke die Karte in den Automaten: »Diese Karte ist nicht zu bearbeiten«, erscheint im Display. Habe ich etwa die falsche Karte eingeschoben? Aufgeregt drücke ich auf alle verfügbaren Knöpfe wie »Hilfe«, »Korrektur«. Diese blöde Kiste ist dumm! Sie reagiert nicht! Und die Karte kommt – was ich auch versuche – nicht wieder heraus. In hilfloser Wut will ich jetzt wild auf den Kasten klopfen – toben – schreien – wie ein Kind, bis endlich jemand kommt.

Schließlich bin ich ein Mensch und darf mich ja mal irren!
Aber all das wird hier sinnlos, denn hier ist kein Mensch, der es hört – geschweige denn hilft.

Ohnmacht vor Maschinen! Mein größter Feind!
So klaut mir diese Panne weiterhin meine Zeit:

»Schnell zur Bank in Bad Soden. Ich muss ja wissen, welche Karte ich da irrtümlich . . .Die muss ich auf jeden Fall wieder haben.« Schnell zur Bank in Bad Soden – ein Witz!

Zum Glück finde ich einen Parkplatz. Im Vorraum der Schalterhalle stehen – wie auf dem Markt -wartende Menschen hinter ihrer Maske. Ein wachsamer Zerberus besetzt die Tür zum Schalterraum und greift zu, wenn jemand vorschnell was will.

»Ist DAS hier Ihr Service?« frage ich im überzeugten Kundenbewusstsein, aber niemand hört mich.
Wut, die in einer Leere von Sinnlosigkeit versickert.

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Ich warte. Es dauert. Offenbar sparen sie an Personal in der Schalterhalle. Stellenabbau. Geduldige Schafe mit Maske – ich mittendrin.

Gab es noch Zeiten, wo ich als Kundin umworben war, einen interessierten Menschen antraf?

Endlich, nach einer Zumutung von Warten, darf ich durch diese Schwingtür – gehe zur Kasse, benenne kurz mein Anliegen: »Ich habe die Karte verwechselt – ich brauche sie zurück!«

Die Frau, verschanzt hinter Plexiglas und Mundschutz, sagt so nett und aalglatt wie das Plexiglas: »Das kann ich nicht machen, den Automaten entsorgt eine Firma. Die vernichten alles.«

Monster – ohne Kontakt. Aalglatt abgetropft verlasse ich die Schalterhalle – stehe auf der Straße im Sonnenlicht –, stehe wie in einer Welt im falschen Film.

Viel früher, in meiner Studentenzeit, hat man so was »strukturelle Gewalt« genannt – offenbar ist es heute »normal« –, eine Welt ohne menschlichen Kontakt!

Ich, die ich in meiner Arbeit tagtäglich Menschen mit Einsatz, Empathie und persönlichem Kontakt begleite, Menschen, die dafür von weither anreisen, weil es ihnen doch offenbar was wert ist und weil es ihnen weiterhilft.! In welcher sich verändernden Welt lebe ich für mich !!!? Darüber spüre ich nach, sitze im Kurpark auf der Bank in der Märzsonne, folge den Hummeln im Narzissenbeet.
Meine Traurigkeit will ich nicht unterdrücken, aber da ist noch mehr. Monster von Verlorensein in dieser Welt wollen mich gerade in den Würgegriff nehmen.

Da klopft es an in meinem Herzen.
Es klopft immer wieder, nachdrücklich, kraftvoll und sehr angenehm und unüberhörbar.
Das Klopfen weitet meine Brust – strömt warm in meine Füße, und es trägt meinen Atem ganz, ganz ruhig und tief.
Eine unsichtbare goldene Fee breitet ihr Netz aus – ganz ohne Worte spricht sie deutlich mit mir: »Ich habe ein weites goldenes Netzwerk. Es berührt die Herzen in dieser Welt. Es zaubert, dass die Menschen sich wieder in die Augen schauen, sich mit dem Herzen sehen, sich zuhören, sich berühren, sich begegnen mit Neugier und – daraus fragen und staunen können.
Und du bist mittendrin.«

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Alle Beiträge des Erzählprojektes »Die Liebe in Zeiten von Corona«

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