Kinotipp
Holocaust als Computerspiel
Doku. Bis ins vierte Glied, heißt es im »Alten Testament«, dem Tanach, werden nachfolgende Generationen von den Erlebnissen, Taten und Traumata ihrer Vorfahren heimgesucht. Doch der 21-jährige Yaar und sein Freund Marcel wollen das Joch der Vergangenheit nicht akzeptieren. Yaar, ein Berliner mit polnisch-jüdischen Wurzeln, dessen Familie zu großen Teilen im Holocaust ermordet wurde, will sich nicht als das ewige Opfer fühlen. Marcel, dessen Urahn ein SS-Täter in Polen war, will sich nicht für dessen Verbrechen rechtfertigen müssen. Um Distanz zu seinen familiären Bedrückungen zu schaffen, plant der Gamedesignstudent Yaar mit Marcel und Freundin Sarah ein Videospiel, inspiriert vom Schicksal seiner Großmutter Rina im Krakauer Ghetto. Darin wollen sie mit Klischees und Rollenzuweisungen brechen: Juden sollen sich wehren, Nazis menschlicher werden. Der Dokumentarfilm, in dem Yaar bei der Entwicklung des Projekts begleitet wird, schockiert anfangs durch die Unbefangenheit, mit der dieser quirlige Hipster »Was-wäre-wenn«-Szenarien entwirft. Könnte die virtuelle Rina nicht ihren kleinen Bruder Roman retten und der SS-Mann, dessen Avatar nach dem Vorbild von Marcels Urgroßvater designt ist, nicht ein »guter Nazi« sein? Und warum macht das Hackenknallen mit den schwarzen SS-Stiefeln, die das Team für das Videospiel besorgt hat, so teuflisch Spaß? Doch Yaars Spurensuche in Krakau und in Israel bei seiner in schweigender Qual erstarrten Großmutter lassen ihn begreifen, wie deren Schuldgefühle mit den Depressionen seines Vaters zusammenhängen. Hautnah und ohne Scheu vor ungefilterten Emotionen wird in diesem provozierenden Film, im Grunde eine Selfmade-Psychoanalyse, deutlich, wie wichtig es ist, sich schrecklichen Erinnerungen zu stellen.