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Kuscheln auf Distanz

vom 06.04.2020
von Ortwin Fritsche

Ich danke allen Schwestern, Pflegern, Ärztinnen und Ärzten im Krankenhaus, dass ich mit ihrer Liebe und Fürsorge schneller gesund werden konnte.

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Ich, Klinikum Bremen-Mitte: Die Gedanken rasen in meinem Kopf hin und her, ohne Fuß fassen zu können. Der schlimmste Gedanke: Ich sterbe!

Eine Krankenschwester rollt mich in einem Bett in die Corona-Isolierstation. Sie spricht mit mir. Eine ruhige, unaufgeregte Stimme, eine hilfreiche Stimme. Vier Tage kämpfte ich um das wichtigste Lebensmittel: um Luft! Dann beginnt langsam mein Kopf wieder zu arbeiten. Ich sortierte Gedanken, Gefühle, Ängste.

Viel wird von Dankbarkeit gesprochen, Belobigungen für alle, die sich in der Corona-Krise bis zur Erschöpfung aufopfern für die Genesung der Infizierten. Dabei fällt mir auf, dass ein wichtiges Moment in der Krankenbetreuung nie erwähnt wird: die persönliche Zuneigung zwischen Pflegenden und Kranken und die große Liebe aller in der medizinischen Betreuung Arbeitenden zu ihrem in diesen Tagen so besonders schweren Beruf.

Das Coronavirus hat eine schlimme Nebenwirkung: Man geht »auf Abstand«, berührt sich nicht, selbst zu Hause dürfen Paare möglichst wenig engen Kontakt haben. Es ist ein Verlust entstanden, ein Nähe-Verlust zu den Nachbarn, Freunden, Bekannten, ja selbst zur Familie: Man darf das Virus nicht verbreiten. Damit einher geht ein weiterer Verlust, der unser Leben in der Zeit der Corona-Krise prägt: Kuscheln darf nicht mehr sein. Dieser wichtige Teil unserer zwischenmenschlichen Beziehung ist einfach zum Schutz aller aufgelöst:

Ich spürte während meiner Erkrankung den Kuschel-Verlust sehr stark. Bewegungslos lag ich im Krankenbett und konnte mit niemandem meiner Angehörigen und Freunde persönlich sprechen. Mein Kontakt waren die hilfreichen, freundlichen Schwestern, und es war eine kleine »Erlösung« für mich, wenn sie viermal am Tag zum »Vermessen« kamen: Blutdruck, Herzfrequenz, Sauerstoffgehalt im Blut etc.

Ich wechselte ein paar Worte mit ihnen, und es kamen immer tröstende Antworten zurück. Angst hatte ich bei den Visiten, denn hier musste aufgrund der Untersuchungsergebnisse immer wieder neu angeordnet werden, wie viel Distanz die Menschen weiterhin zu mir halten müssen.

Trotzdem denke ich, dass ich meine Genesung zum großen Teil der liebevollen, tröstlichen Nähe zu den Schwestern verdanke. Es entstand eine neue Form des »Kuschelns«: von Herzen und auf Distanz.

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Schon allein die Fragen der Schwestern, ob sie mir zum Frühstück noch einen weiteren Kaffee organisieren sollten, machte mir Hoffnung auf baldige Besserung. Wer mein Krankenzimmer betreten wollte, musste sehr strenge Hygienevorschriften einhalten: Ärzte, Schwestern und Pfleger verhüllten sich von Kopf bis Fuß mit Haube, Brille, Maske, Plastikkittel mit langen Ärmeln und Handschuhen.

Nach den Untersuchungen oder dem Abstellen der Mahlzeiten wurde alles wieder ausgezogen und in spezielle Behälter gepackt. Die Helfenden schwitzten an den Krankenbetten, blieben jedoch immer freundlich und geduldig. Für mich war es ein »seelisches Kuscheln«, was ich erlebte, denn ich spürte ihre Liebe zu den Menschen und ihren unbedingten Willen, zur Genesung ihrer Patienten beizutragen.

Nach etwa zehn Tagen der Sonderisolation erfolgte denn auch die freundliche, aber bestimmte Aufforderung: »Nun aber etwas Bewegung, sonst kommen Sie nie aus dem Bett.«

Natürlich versuchte ich dieser Ansage gleich nachzukommen, was zuerst sehr mühsam war. Aber dann bildete meine innere Stimme einen Slogan, dem ich willig folgte: Corona rocken, auf die Socken, Zimmerjoggen! Und mit der Havannamusik, die mir meine Frau aufs Handy schickte, gelang es an jedem weiteren Tag, 2000 Schritte in mehreren Etappen durch das Krankenzimmer zu »joggen«.

Ich begann die Schwestern in ihrer fürsorglichen, energischen Art zu lieben. Es waren zwar nur ihre freundlichen Augen hinter der Schutzbrille zu erkennen, aber an eine erinnere ich mich noch genau, weil sie eine grüne Iris und eine braune Iris hatte. Das Betreten des Krankenzimmers durch die Schwestern, Pfleger und Ärzte verbreitete in mir sofort Wärme, und es entstand eine beruhigende Atmosphäre. Ich fühlte dieses »Kuscheln auf Abstand« wie eine heilsame Energie, die sich auf mich übertrug. Hinzu kam für mich das tiefe Vertrauen, das sich nach den Tagen der Luftnot bei mir eingestellt hatte. Das Vertrauen, dass alle ihr Möglichstes geben, damit ich wieder gesund werde.

Nach 16 Tagen Isolation saß ich in meinem Krankenzimmer am Fenster. Da öffnete sich die Tür, und fünf Schwestern ohne Schutzanzüge kamen herein und sprachen mich freudig im Chor an: »Sie haben es überstanden, wir sind froh, dass wir gemeinsam das Corona-Virus besiegt haben!«

Ich brach in Tränen aus. Wir umarmten uns. Die Schwestern waren glücklich und ich war glücklich. Ich danke ihnen dafür, dass ich mit ihrer Hilfe, ihrer Liebe, mit dem »Kuscheln auf Distanz« schneller gesund werden konnte. Und ich danke meiner Tochter, die mich mit ihren schönen Zeichnungen erfreute.

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Alle Beiträge des Erzählprojektes »Die Liebe in Zeiten von Corona«

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