Dichtung oder Wahrheit?
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Seit der Abwehr des »Erzketzers« Marcion, der im zweiten Jahrhundert das Alte Testament aus den Kirchen verbannen wollte, herrscht in der Christenheit Konsens darüber, in den alttestamentlichen Schriften ein für den christlichen Glauben unverzichtbares Dokument zu besitzen. Über Jahrhunderte dominierte dabei eine Deutung, die das Alte Testament als »Buch der Weisung« oder Vorgeschichte des Neuen Testaments deutete - eine Interpretation, deren Fragwürdigkeit und latenter Antijudaismus von neueren Exegeten wiederholt zu Bewusstsein gebracht worden ist. Nun möchte ihr der Göttinger Neutestamentler Gerd Lüdemann endgültig den Garaus bereiten. Lüdemann verweist dazu auf neue Ergebnisse der historischen Forschung, die es wahrscheinlich machen, dass die alttestamentlichen Zeugnisse für eine vermeintliche Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk Israel das Produkt einer fiktiven und konstruierten Geschichtsdeutung jüdischer Gelehrter des sechsten Jahrhunderts vor Christus sind. Publik-Forum hat Manfred Görg, Emeritus für alttestamentliche Exegese in München, gebeten, auf Lüdemanns These zu antworten. Auf dessen Behauptung, die Heilsgeschichte Gottes mit Israel sei eine theologische Fiktion, entgegnet Görg mit dem Hinweis, dass sich in ihr nicht historische Wahrheit, sondern das Faktum des gläubigen Selbstverständnisses eines Volkes zeige, das fortwährend um sein Überleben bangen musste. Nicht als historisches Werk, sondern als Dokument eines geschichtsmächtigen Gottesglaubens sei die hebräische Bibel für Christen bedeutsam. Das Alte Testament zwischen Fiktion und Tatsache - eine weitere »Baustelle Christentum« ist eröffnet.