Ein Engel kam – ein Engel ging
Blicke ich auf die letzten sechs »Corona-Monate« zurück, dann lautet die »Bilanz« in wenigen dürren Worten: Drittes Pflegekind bei uns eingezogen, Mama verstorben, etwa achtzig Prozent meines Jahresgehalts weggebrochen.
Doch ich muss ausholen, um die ganze Wahrheit zu sagen: Als meine Mutter (83) mit Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus lag, meldete sich das Jugendamt. Der kleine Leon, der als Baby zehn Wochen bei uns gewesen war, müsse aus der Mutter-Kind-Einrichtung, in der er fast zwei Jahre mit der leiblichen Mutter gelebt hatte, rausgenommen werden. Die Mutter würde seine Bedürfnisse nicht erkennen und reagiere nicht angemessen, der kleine Leon sei frustriert. Es liege eine Kindswohlgefährdung vor. Nach einem weiteren Gespräch mit dem Jugendamt einige Tage später begann die einwöchige Bedenkzeit: Ja oder Nein sagen? Verwandte und Freunde reagierten mit Freude oder Skepsis, manche ermutigten uns, andere rieten ab. Wir sagten JA zum kleinen Leon. Man muss wissen, dass seine leiblichen Schwestern – fünfzehn bzw. zwölf – schon seit zwölf Jahren bei uns leben. Nach einem Gespräch in der Mutter-Kind-Einrichtung einigten wir uns zum Missfallen der Einrichtung (die hätten ihn am liebsten binnen weniger Tage entlassen) auf eine vierwöchige Anbahnungsphase: Alle zwei Tage wollten wir Leon besuchen, für ein bis zwei Stunden, um sich kennenzulernen und miteinander vertraut zu machen. Dann wurde Corona immer heftiger, und Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen wurden angekündigt. Die Anbahnungsphase wurde verkürzt, und Leon traf am ersten Tag der bayerischen Ausgangsbeschränkung bei uns ein. Nur die ersten vier, fünf Abende und Nächte waren schwierig, dann war er angekommen. Das hatten wir so nicht erwartet. Schon am ersten Tag nannte er uns »Mama« und »Papa«, ohne dass wir es forciert hätten.
Irgendwie bedeutete der Familienzuwachs überhaupt keine große Umstellung (natürlich mussten wir die Wohnung vorbereiten, dafür zwei Zimmer tauschen, Dinge anschaffen etc.) – als ob er schon immer dazugehört hätte. Als ob er schon immer »eingeplant« gewesen wäre … Mit seiner heiteren Art tut er uns allen richtig gut. Er bringt uns zum Lachen und Schwitzen.
Dann starb meine Mutter – in der Karwoche. Meine Spanischlehrerin schrieb per E-Mail: »Ein Engel ging – ein Engel kam.« Wie wahr! Wie schön formuliert! Mama konnte friedlich im eigenen Bett entschlafen. Coronabedingt war es eine sehr kleine Beerdigung. Wären normalerweise sicher 200 bis 300 Menschen gekommen, war die Obergrenze 15 – genau die Zahl, die ich und meine Brüder mit Familien zusammenbrachten. Klein, aber fein. Klein, und persönlich, das hat auch Vorteile.
Publik-Forum EDITION
»Das Ende des billigen Wohlstands«
Wege zu einer Wirtschaft, die nicht zerstört.»Hinter diesem Buch steckt mein Traum von einer Wirtschaft, die ohne Zerstörung auskommt. / mehr
Der Wegfall meiner zwei wichtigsten beruflichen Standbeine – Reiseleitung im Heiligen Land und Vortragstätigkeit – ist natürlich an manchen Tagen belastend, rückblickend hatte er viel Gutes: Ich konnte sehr viel Zeit mit Leon verbringen, wir gingen spazieren in der Natur, wir waren auf fast allen Spielplätzen unseres Ortes, wir besichtigten viele Baustellen, spielten im Hof, kochten zusammen, und, und, und. Denn meine Frau hatte und hat als Ikonenmalerin alle Hände voll zu tun. Seit vier Wochen ist unser Bübchen im Kindergarten, und auch da klappte die Eingewöhnung vorbildlich. Die plötzlich gewonnenen sechs Stunden an »Freizeit« nutze ich, um ein weiteres Buch über das geschundene Heilige Land zu schreiben. Dort habe ich mehrmals gelebt, unter anderem in der unberechenbaren Zeit der zweiten Intifada. In Bethlehem habe ich 2002/03 etwa hundert Tage kompletter Ausgangssperre erlebt, vom israelischen Militär verhängt – einmal sechs Tage und sechs Nächte am Stück: Nicht einmal die Apotheke aufzusuchen war erlaubt, von Einkaufen ganz zu schweigen. Und die Palästinenser, vor allem die Hebroniten, haben vorher und nachher Tage und Wochen unter Ausgangsverbot erlebt – da sind unsere deutschen Beschränkungen (auch wenn sie in manchen Branchen existenzgefährdend sind) vergleichsweise harmlos und fast lächerlich. Wer damals vors eigene Haus trat, den Nachbarn besuchen oder heimlich Brot kaufen wollte, konnte erschossen werden. Das ist auch laut israelischer Menschenrechtsorganisation B´Tselem mindestens fünfzehnmal Mal passiert, noch viel mehr Menschen wurden verwundet. Vielleicht sollten dies Corona-Zweifler oder AHA-Regeln-Kritiker einmal bedenken.
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Dies ist ein Beitrag im Rahmen des Erzählprojektes von Publik-Forum »Die Liebe in Zeiten von Corona«. Wir laden unsere Leserinnen und Leser ein zu unserem Erzählprojekt: Bitte schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen, Nöte, Ängste und Ihre Zuversicht in Zeiten von Corona.