Leserbrief
Verpasste Chance?
Zu: »Gehört die Nakba-Ausstellung auf den Kirchentag?« (8/2023, Seite 8-9)
Diese wichtige Ausstellung sollte gezeigt werden. Das bedeutet überhaupt nicht, dass »die selbstkritische Auseinandersetzung mit der Shoah» vernachlässigt wird. Im Gegenteil: auch das Leid der palästinensischen Bevölkerung muss Thema werden. Auch im Interesse Israels. Die Nakba, Flucht und Vertreibung von Palästinenserinnen aus ihren angestammten Dörfern, hat direkt mit uns zu tun. Ohne die Shoah wäre die Staatsgründung Israels wohl anders verlaufen, langsamer, weniger einseitig. Gerade weil schon immer Juden dort gewohnt haben, in einem Vielvölkergebiet, sieht man, dass es auch anders hätte gehen können. Ich sah die Ausstellung vor einigen Jahren in Bremen. Sie hat meinen Horizont erweitert. Das wünsche ich auch den Besuchern des Kirchentags. Eva Bechert, Bremen
Die Auseinandersetzung mit der Nakba und auch dem aktuellen Leiden der Palästinenser:innen ist dringend notwendig, auch im Rahmen eines theologischen Diskurses, wie er auf dem Kirchentag gepflegt wird. Die Nakba-Ausstellung wurde allerdings von unterschiedlichen Seiten als tendenziös, mangelhaft und in der historischen und politischen Darstellung als unterkomplex kritisiert. Diese Mängel sind nicht zufällig, sondern tendenziell antisemitischen Topoi zuzuordnen, auch christlichen. Insofern hat der Kirchentag eine besondere Verantwortung für eine differenzierte Auseinandersetzung. Differenzierter als eine tendenziöse Ausstellung, die seit 2008 kritisiert wird und seitdem mit dem Aufschrei »Sprechverbot« droht. Leo H., publik-forum.de
Ja, eine solche Ausstellung kann den Antisemitismus anfeuern. Ja, Juden leben seit der Antike in diesem Gebiet und ja, Juden wurden und werden aus vielen Ländern vertrieben, auch aus arabischen Ländern. Und die Shoah ist das größte Verbrechen des vergangenen Jahrhunderts, vielleicht sogar der ganzen Menschheitsgeschichte. Aus diesen Gründen jedoch das Schicksal der Palästinenser nicht zu dokumentieren, ist nicht hinnehmbar. Man kann nicht das größere Leid der Juden gegen das Leid der Palästinenser aufrechnen, das im Übrigen auch bis zur Stunde andauert. Die Reflexion darüber muss der jüdisch-christliche Dialog, den auch ich betreibe, aushalten. Klaus Dorn, publik-forum.de
Ich sehe es als verpasste Chance an, dass die Nakba-Ausstellung auf dem evangelischen Kirchentag nicht gezeigt wird. Die Ermordung von Millionen Menschen jüdischen Glaubens ist unvorstellbar, schrecklich und katastrophal; das gilt es unbedingt anzuerkennen und im Gedächtnis zu bewahren. Warum sollte uns aber die selbstkritische Auseinandersetzung mit der Shoah den Blick auf anderes Leid verstellen? Die Ausstellung zeigt Bilder von Flucht und Vertreibung der Palästinenser im Jahr 1948. Sie zu zeigen ist nicht antisemitisch. Sie nicht zu zeigen schürt meines Erachtens eher antisemitische Ressentiments. Gabriele Reimers, Altenberge
Es waren israelische Historiker, die den zionistischen Gründungsmythos (»Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land«) durch akribische Quellenarbeit demontierten. Auf ihren Ergebnissen beruht die Ausstellung. Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm vertritt die Auffassung, dass die israelische Gesellschaft nicht gesunden und zu einem Frieden kommen kann, wenn sie ihre Vergangenheit nicht aufarbeitet. Ich denke, dass man dem gerade aus deutscher Erfahrung nur zustimmen kann. Ich sehe aus der schuldhaften Vergangenheit resultierend eine doppelte Verantwortung, gegenüber den Juden, aber auch gegenüber den Palästinensern. Manfred Jeub, Freiburg im Br.