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Tagebuch aus Kiew
»Warum hilft uns Deutschland nicht zu hundert Prozent?«

vom 03.05.2022
Natalia P. sieht in Kiew zum ersten Mal in diesem Jahr einen Regenbogen und fragt sich, warum der deutsche Kanzler so ängstlich ist. Eine weitere Folge ihres Kriegstagebuchs aus der Ukraine.
Demonstration in Bonn: «Freiheit für die Ukraine«. (pa/Banneyer)
Demonstration in Bonn: «Freiheit für die Ukraine«. (pa/Banneyer)

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In Kyiv ist jetzt Frühling, die Bäume und Blumen blühen. Ein schönes Gefühl. Als ich gestern von meinem Büro mit Kollegen nach Hause ging, regnete es. Wir sahen einen Regenbogen. Den ersten für mich in diesem Jahr. Ein Hoffnungszeichen in diesen Tagen.

Manchmal gibt es noch Raketenalarm. In anderen Teilen des Landes fallen weiter russische Bomben, aber bei uns ist es ruhig. Eine alte Kollegin, die in die Westukraine geflohen war und nun zurückgekehrt ist, reagierte ganz aufgeregt auf die Sirenen und fragte uns, ob wir nicht in den Keller gehen müssten. Wir haben sie nur erstaunt angeschaut und sie gefragt: »Wozu?« Die Menschen, die hiergeblieben sind, sind abgehärtet. Wir gehen zur Arbeit, nicht in Bunker oder Keller, weil wir effektiv arbeiten müssen, um unser Land weiter zu verteidigen und es wieder aufzubauen. Das ist ein großer psychologischer Unterschied zu den Rückkehrern, die die Angriffe nicht erlebt haben.

An Ostern konnten wir nach zwei Monaten endlich wieder meine Eltern in ihrem Dorf im Norden besuchen. Die Fahrt war sehr aufregend, denn die Straßen und vor allem die Brücken waren an vielen Stellen zerstört. Einmal mussten wir mit dem Auto durch einen Fluss fahren und wir mussten viele Umwege nehmen. Meinen Eltern geht es zum Glück gut, auch wenn das Leben für sie nach den Kriegserfahrungen viel härter ist als vorher, wie für uns alle. Wird sind nun viel dankbarer für das alltägliche Leben, das wir hatten und hoffentlich bald wieder haben.

Unsere Tochter ist bei ihren Großeltern geblieben. Denn die Schulen sind weiter zu. Sie kann dem Videounterricht auch dort folgen, und es ist schöner und ruhiger für sie. Sie hat dort auch Freunde.

In Kyiv öffnen die Cafés und Kinos wieder. Das normale Leben kehrt allmählich zurück, aber es ist noch nicht wie vorher im Frieden. Ich bin noch nicht wieder in ein Café oder einen Film gegangen. Es käme mir komisch vor, da ja weiter Krieg herrscht.

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Die Drohungen der russischen Angreifer mit Atomwaffen und einem Dritten Weltkrieg nehme ich nicht ernst. Mein Nachbar sagt immer: »Wir können das russische System nicht verstehen und wie die russischen Soldaten sich zum einem Teil dieses aggressiven Systems machen können.« Ich habe aufgehört, mir darüber Gedanken zu machen, da das System ja auch nicht funktioniert, wie der Kriegsverlauf zeigt. Russischsprachige wie mein Mann können vielleicht besser verstehen, wie sie denken. Für mich ist es jetzt noch wichtiger, das Ukrainische und unsere Sprache zu schützen. Mein allererster Chef wollte, dass ich Russisch mit ihm rede. Ich habe ihn damals gefragt: »Warum? Wir sind ein unabhängiges, souveränes Land. Warum soll ich die Sprache der früheren Herrscher sprechen?« Heute lebt er in Kanada und schreibt mir auf Ukrainisch. Früher hörte man auf den Straßen und in den Parks überall nur Russisch. Nur in den Dörfern wie bei meinen Eltern sprachen die Leute richtiges Ukrainisch. Jetzt ist es ganz anders. Putin hat uns mit seinem Krieg alle endgültig zu Ukrainern gemacht, auch die Russischsprachigen.

Eine Freundin von mir ist jetzt in Berlin. Sie muss den Leute dort immer wieder erklären, dass sie Ukrainisch spricht, nicht Russisch. Viele verstehen den Unterschied zwischen den Ländern nicht, auch viele von denen, die den Flüchtlingen und Kriegsvertriebenen helfen wollen. Wir haben eine eigene Sprache, eine eigene Kultur, eine eigene Geschichte. Wir sind ein eigenes Volk. Das ist wohl für viele Deutsche eine Überraschung, weil sie sich mit der Ukraine nie beschäftigt haben.

Die Haltung der deutschen Regierung kann ich nicht verstehen. Warum unterstützen sie uns nicht zu hundert Prozent? Das wäre doch eine normale menschliche Reaktion. Ich versuche, ihre Vorbehalte und Ängste nachzuvollziehen. Aber persönlich würde man doch auch einem Menschen, der angriffen wird und in Not ist, helfen. Ich mache das jedenfalls bei Freunden und Kollegen. Wenn ich nicht dazu in der Lage bin, erkläre ich ihnen, warum ich ihnen nicht helfen kann. Vom deutschen Kanzler würde ich wenigstens das erwarten.

Russland macht wirklich gute Propaganda. Überall im Westen und in der ganzen Welt haben Politiker und normale Menschen gelernt, in russischer Art zu denken. Wenn ein Land, ein Volk sich allen anderen überlegen fühlt, ist das wie ein Krebsgeschwür für unseren Planeten, besonders für diesen Kontinent. Gerade die Deutschen müssten das wissen. In Europa gibt es so viele verschiedene Nationen und Kulturen, mit ihren jeweiligen Vorzügen. Kein Land ist einem anderen überlegen. Wenn man sich aber auf diesen Irrglauben einlässt, führt das früher oder später immer zum Krieg, wie wir es gerade erleiden. Deshalb ist für uns Ukrainer Europa die Zukunft.

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