Zur mobilen Webseite zurückkehren

Das Stück von Bach

vom 03.07.2020
von Dr. Helmut Hering

Ich habe mich in der letzten Wochen immer wieder am frühen Morgen an die Orgel in der Matthäuskirche in Marburg gesetzt. Die Kirche bleibt in der Corona-Zeit offen, deshalb kommen manchmal Besucher herein, vielleicht angelockt nicht nur von der offenen Tür, sondern auch vom Klang der Orgel. Dann wechsle ich das Programm und spiele, was schon »fertig« ist, denn beim Üben zuzuhören ist nicht immer ein Ohrenschmaus. Kürzlich kam eine Frau herein, die ich ihrer äußeren Erscheinung nach in den Kreis der Wohnungslosen einordnete: abgetragene Kleidung, strubbelige Haare (die allerdings auch ich habe in Ermangelung meiner Friseurin), eine volle, alte Plastiktüte in der rechten Hand … und so kam sie zögernd näher, blieb etwa zwei Meter neben mir stehen. Ich begrüßte sie und fragte, ob ich ihr helfen könne. »Spielen Sie hier immer Orgel?«, wollte sie wissen. Ich erklärte ihr, dass ich in dieser Kirche einer der beiden Organisten bin. »Darf ich Sie etwas fragen?« und trat noch einen Schritt vor. »Gerne!« »Können Sie mal das Stück von Bach spielen?« Ich geriet in Schwierigkeiten: »Welches Stück meinen Sie denn?« »Ich weiß nicht! Ich habe es im Radio gehört.« »Aber Bach hat sehr, sehr viel geschrieben, da müsste ich schon wissen, welches Sie gehört haben.« »Es war das Stück von Bach!« Ich schlug vor, ihr etwas aus Bachs »Orgelbüchlein« vorzuspielen. Sie war einverstanden, rückte wieder näher und staunte, dass »das ganze Buch nur voll von Bach« war. Ich spielte »Heut‘ triumphieret Gottes Sohn«, ein Prachtstück, wenngleich ich es hätte vorher einmal üben müssen. Nach dem brausenden Schlussakkord verharrten wir beide für einige Momente schweigend. Ich löste die Stille: »War es ›das‹ Stück, das Sie gehört haben?« »Ich weiß es nicht! Aber das war jetzt auch schön! Vielen Dank!« – und ging.
Mir geht diese kleine Begegnung nach: Wie schön, dass ein Mensch, der klassischen Musik offenbar eher fern, doch so berührt wurde von »dem Stück« von Bach – und ohne Corona wäre die Matthäuskirche verschlossen gewesen und nie hätte ich der Frau etwas vorspielen können, was sie »auch schön« fand.

4 Wochen freier Zugang zu allen PF+ Artikeln inklusive E-Paper

______

Anzeige

Publik-Forum EDITION

»Das Ende des billigen Wohlstands«

Wege zu einer Wirtschaft, die nicht zerstört.»Hinter diesem Buch steckt mein Traum von einer Wirtschaft, die ohne Zerstörung auskommt. / mehr

Alle Beiträge des Erzählprojektes »Die Liebe in Zeiten von Corona«

______

Jeden Morgen kostenlos per E-Mail: Spiritletter von Publik-Forum

Kommentare und Leserbriefe
Ihr Kommentar
Noch 1000 Zeichen
Wenn Sie auf "Absenden" klicken, wird Ihr Kommentar ohne weitere Bestätigung an Publik-Forum.de verschickt. Sie erhalten per E-Mail nochmals eine Bestätigung. Der Kommentar wird veröffentlicht, sobald die Redaktion ihn freigeschaltet hat. Auch hierzu erhalten Sie ein E-Mail. Siehe dazu auch Datenschutzerklärung.

Mit Absenden des Kommentars stimmen Sie der Verarbeitung Ihrer Daten zur Bearbeitung des Kommentars zu. Zum Text Ihres Kommentars wird auch Ihr Name gespeichert und veröffentlicht. Die E-Mail-Adresse wird für die Bestätigung der Bearbeitung genutzt. Dieser Einwilligung können Sie jederzeit widersprechen. Senden Sie dazu eine E-Mail an [email protected].

Jeder Artikel kann vom Tag seiner Veröffentlichung an zwei Wochen lang kommentiert werden. Publik-Forum.de behält sich vor, beleidigende, rassistische oder aus anderen Gründen inakzeptabele Beiträge nicht zu publizieren. Siehe dazu auch Netiquette.