Pro und Contra
Sollen wir mehr und länger arbeiten?

Ulrich Körtner: Ja!
Bezogen auf die Situation in Deutschland – ich selber lebe in Österreich, wo die Probleme freilich ähnlich gelagert sind – muss die Antwort lauten: Ja. Die Herausforderungen auf dem Weltmarkt, demografischer Wandel, der zunehmende Mangel an qualifizierten Arbeitskräften und sinkende Produktivität bei gestiegener Lebenserwartung legen das nahe.
Visionen von einer 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich – begründet mit dem Argument, mit sinkender Wochenarbeitszeit würden das Wohlbefinden, die Freude an der Arbeit und damit auch die Produktivität steigen – gehören wohl ebenso ins Reich des Wunschdenkens wie die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens. Wobei schon richtig ist, dass nicht die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden, sondern die Produktivität pro Arbeitsstunde, die Höhe der Krankenstände und eine durch belastende Faktoren im Job verursachte Arbeitsunfähigkeit mit zu bedenken sind. Natürlich gilt dies auch von Effizienzsteigerung aufgrund technologischer Innovation. Letztlich aber führt angesichts des demografischen Wandels kein Weg an einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit vorbei – mit Ausnahmen für Berufsgruppen mit schwerer körperlicher Belastung.
De facto wird ohnehin mehr und länger gearbeitet – allerdings nicht unbedingt in angemeldeten Beschäftigungsverhältnissen, sondern in Form von Schwarzarbeit und Nachbarschaftshilfe. Die Forderung, mehr und länger zu arbeiten, läuft ins Leere, wenn Erwerbsarbeit als solche nicht attraktiver wird. Problematisch ist die Zunahme der Teilzeitbeschäftigung. Besonders drängend sind die Probleme im Gesundheitssektor, namentlich in der Pflege. Sinkende Personalstände erhöhen den Arbeitsdruck, der auf den Einzelnen lastet. Die Debatte um die Zukunft der Arbeit darf sich aber nicht auf den Erwerbssektor beschränken. Wir müssen auch über die unbezahlte Familienarbeit – zumeist weiblich – und ehrenamtliche Tätigkeiten sprechen.
Mehr und länger arbeiten, um den Wohlstand zu sichern, ist letztlich eine Frage der sozialen und intergenerationellen Gerechtigkeit. Um den Sozialstaat zu erhalten und die Renten der nächsten Generationen zu sichern, sind die Produktivität und die Solidarität derer gefordert, die dazu in der Lage sind. Das entspricht christlichen Grundsätzen. Lebenssinn und Selbstwert hängen freilich weder im Beruf noch in der Freizeit allein am Tätigsein, sondern an der Erfahrung der Güte Gottes. »Was hast du, das du nicht empfangen hast?« (1. Korinther 4,7) Die Würde jedes Menschen und das Recht auf Leben bestehen unabhängig von allen Leistungen. Arbeit ist bestenfalls das halbe Leben.
Franz Segbers: Nein!
Mit 4-Tage-Woche und Work-Life-Balance könne Deutschland seinen Wohlstand nicht erhalten; es müsse mehr gearbeitet werden. Der Vorwurf von Bundeskanzler Merz, die Menschen seien zu faul, widerspricht den Fakten und ist erstaunlich ignorant. Die Beschäftigtenzahl erreicht gerade einen Höchststand; Deutschland ist mit 552 Millionen bezahlten und 638 Millionen unbezahlten Überstunden Europameister. Da aber jede zweite erwerbstätige Frau teilzeitbeschäftigt ist, sieht die durchschnittliche Jahresarbeitszeit im europäischen Vergleich relativ gering aus.
Nun will die Bundesregierung eine wöchentliche statt einer täglichen Höchstarbeitszeit einführen. Dabei ist heute schon der Achtstundentag keine Höchstgrenze, sondern vielmehr Ausgangspunkt für eine Vielfalt von Flexibilisierungen. Nicht längere Arbeitszeiten, auch nicht mehr Flexibilisierung, sondern vor allem eine kürzere Erwerbsarbeitszeit kann helfen, Beruf und Familie besser zu vereinbaren.
Allen Diffamierungen der 4-Tage-Woche zum Trotz: Sie ist keine Utopie mehr. Immer mehr Unternehmen und öffentliche Dienststellen in vielen Ländern führen sie erfolgreich ein. Die Vorteile einer kürzeren Arbeitswoche bei Lohnausgleich sind empirisch gut belegt: Die Beschäftigten sind zufriedener und gesünder, die Unternehmen oft produktiver und effizienter.
Fatal ist das verstaubte Arbeitsverständnis von Merz: Arbeit ist mehr als Erwerbsarbeit. Auch die Sorge um Kinder oder pflegebedürftige Menschen ist Arbeit. Wer Arbeit auf Erwerbsarbeit verengt, wertet Tätigkeiten ab, die kein Wirtschaftswachstum erbringen. Studien belegen, dass die Menschen für die Carearbeit sogar fast doppelt so viele Stunden aufwenden wie für die Erwerbsarbeit. Durchschnittlich liegt die Erwerbsarbeitszeit heute bei nur etwa 30 Stunden. Diese Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich erfolgt jedoch insbesondere auf dem Rücken der Frauen, die erst durch Teilzeitarbeit die Sorgearbeit lebbar machen. Die Gesellschaft ist aber neben der Carearbeit auf weitere wichtige Tätigkeiten angewiesen: auf zivilgesellschaftliches Engagement in Parteien, Gewerkschaften, Kirchen.
Eine kurze Erwerbsarbeitsvollzeit ist zeitgemäß und sollte normal werden. Es ist an der Zeit, Lohn-, Care- und zivilgesellschaftliche Arbeit in ihrer Gesamtheit ernst zu nehmen. Weniger Erwerbsarbeit ermöglicht mehr an ganzer Arbeit für alle. Was Merz als »Work-Life-Balance« abtut, bietet die Chance, Lohn- und Sorgearbeit geschlechtergerecht besser zu verteilen sowie Familie und Beruf leichter vereinbar zu machen. Die 4-Tage-Woche ist technologisch machbar und ökonomisch vernünftig. Es lohnt sich, um sie zu kämpfen.
Ulrich Körtner ist Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und Institutsvorstand.
Franz Segbers ist emeritierter Professor für Sozialethik an der Universität Marburg.
