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Ein Herz und eine Seele

vom 18.06.2020
von Lieselotte Leistner

Ein Herz und eine Seele waren sie, nachdem sie sich auf einer Tanzveranstaltung kennengelernt und wenige Tage später an einer Currywurst-Bude wiedergetroffen hatten. Ein Herz und eine Seele. Sie lachten miteinander. Sie umarmten sich bei jeder Gelegenheit und hatten viel zu erzählen. Ich glaube, sie liebten sich …

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Als sie eines Abends wieder einmal an ihrem Lieblingsplatz am Flussufer saßen, begann das Herz stockend, nach Worten suchend: »Hör mal, meine Freunde machen sich Sorgen um mich. Sie haben gesagt: ›Was ist das für eine seltsame Sache mit deiner Seele. Man kriegt sie nie zu Gesicht. Vielleicht hast du Wahnvorstellungen, bildest dir alles nur ein. Am Ende lacht man dich noch aus. Selbst die Willenskraft weiß nicht so recht, was man von ihr halten soll, von der Seele.

Bei uns Herzen ist das doch ganz anders. Man kann uns hören, kann uns fühlen – sogar reparieren –, schließlich sind wir alle Hochleistungspumpen. So etwas kann man von einer Seele wahrhaftig nicht sagen. Ihr seid jedenfalls ein eigenartiges Paar. Du solltest deine Beziehung überdenken.‹«

Die Seele schwieg überrascht. Und nach einer Weile fuhr das Herz fort: »Vielleicht sollten wir uns eine Auszeit nehmen. Ich glaube, das macht man heutzutage so. Ich bin verunsichert. Manchmal habe ich Schmerzen.«

»Ich will nicht, dass du meinetwegen Schmerzen hast«, sagte die Seele tonlos.

»Aber was hältst du davon, wenn wir uns in sieben Tagen wieder an diesem Ort treffen. Dann sehen wir, wie die Lage ist.«

»Ja, machen wir es«, rief das Herz hastig, sprang auf und verabschiedete sich.

Sieben Tage gingen ins Land. Und als das Herz zum Flussufer kam, saß die Seele bereits auf dem alten Baumstamm.

»Na du, wie geht‘s, wie steht‘s?«, fragte sie freundlich.

»Geht so«, sagte das Herz und hockte sich dazu.

»Stell dir vor, bei einem Seelenklempner bin ich gewesen«, murmelte die Seele. »Wo warst du?«, wunderte sich das Herz und machte große Augen.

»Na, ich meine natürlich, dass ich bei einem Psychologen war«, erklärte die Seele und lächelte verschmitzt. »Jedenfalls siehst du daran, dass es tatsächlich Menschen gibt, die mich nicht für eine Einbildung halten, die sich sogar für mich und meine Geschichten interessieren.«

»Eigenartig«, erwiderte das Herz.

»Du hast doch wohl nicht über uns geredet … oder doch?« Die Seele nickte.

»Eigenartig, dass du mit Fremden über uns beide schwätzen kannst! Möchte nicht wissen, was du da zum Besten gegeben hast, über mich, über dich … Peinlich finde ich das, absolut peinlich …«

Dann starrten beide wortlos und auch etwas ratlos auf das dahinfließende Wasser.

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Als wiederum sieben Tage vergangen waren, wartete das Herz schon voller Unruhe, als die Seele endlich kam.

»Na du«, sagte die Seele, »wie geht‘s, wie steht‘s?«

»Nicht so gut«, seufzte das Herz und atmete schwer.

»Ich war bei einem Herzspezialisten. Da er ein Spezialist ist, hat er gleich erkannt, dass ich Rhythmusstörungen habe.«

»Rhythmusstörungen?«, fragte die Seele erstaunt. Dann hörte man längere Zeit nur die Uferschwalben, die durch die Luft jagten.

»Vielleicht sollten wir mal wieder tanzen gehen« – damit brach die Seele das seltsame Schweigen.

Das Herz musste laut lachen.

Und nach einer gefühlten Ewigkeit meinte es: »Vielleicht sollten wir auch wieder mehr miteinander reden – über das, was uns vertraut macht, und das, was nur noch fremd ist.«

»Und dass Anderssein nichts Schlimmes ist«, ergänzte die Seele. »Und dass wir vielleicht nur gemeinsam das sind, was wir bestenfalls sein könnten.«

Über diesen etwas sonderbaren Satz musste das Herz erst einmal in Ruhe nachdenken. –

Als die Nacht hereinbrach, lagen sie sich in den Armen und schauten noch lange auf den wunderbaren Glanz, den der Mond auf das Wasser zauberte.

Sie waren ein Herz und eine Seele.

Ich glaube, sie liebten sich.

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Alle Beiträge des Erzählprojektes »Die Liebe in Zeiten von Corona«

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